Was ist somit zu tun? Die Kommission sollte Vorschläge nicht nur mit den im Weißbuch benannten Akteuren der Zivilgesellschaft beraten, sondern auch - und vor allem - mit den sich bald durch das geplante "Europäische Parteienstatut22 " konsolidierenden Europäischen Parteien und den Fraktionen in einen Dialog treten. Parteien nehmen sich, anders als andere Akteure der Zivilgesellschaft, einer Vielzahl von Problemfeldern an. Sie verfolgen nicht nur - auch noch so legitime - Partikularinteressen. Auch repräsentieren sie besser als lediglich Partikularinteressen artikulierende NGO's die gesellschaftliche Stimmungslage und stellen sich - wenn bisher auf europäischer Ebene auch auf Grund des Art. 190 EGV in eingeschränktem Maße- auf Grund politischer Programme zur Wahl. Somit sind Parteien auch nur eine Art von Zwischengliedern, jedoch haben sie - wenn sie denn auch auf europäischer Ebene anfangen würden, sich so zu begreifen - die Möglichkeit, durch parteiliche Fraktionen über das EP - leider noch ohne Initiativrecht - und eine von ihnen angestoßene Diskussion Politik rechtsverbindlich zu gestalten23 . Vor allem: sie tragen dazu bei, Öffentlichkeit herzustellen.
Im folgenden sollen einige im Weißbuch genannte Punkte im Hinblick auf ihren politisierenden oder entpolitisierenden Effekt untersucht werden.
Im Vorfeld von Initiativen sollte der "majoritarian approach" zu Gunsten einer öffentlichen Diskussion möglicher Politikoptionen verlassen werden. Durch Einbeziehung von Parteien würde die Diskussion die für eine öffentliche Wahrnehmung nötige Schärfe und Polarisierung gewinnen. Mehr Bürger würden sich in die Diskussion einbringen, da das Gefühl vermittelt würde, "ihre" Interessen seien betroffen - nicht "lediglich" die der Kommission oder des Parlaments, welches sich gerade gegenüber dem anderen Organ durchgesetzt hat.. Hierzu gehört auch, entgegen kritischen Stimmen aus Wissenschaft und Praxis, das Mehrheitsprinzip auszuweiten. Trotz der hiermit verbundenen Gefahren wie der Düpierung kleinerer Staaten bietet nur das die Gewähr dafür, politische Debatten öffentlich und nicht in Hinterzimmern bei der Konsenssuche auszutragen.
Um diese Politisierung auch auf europäischer Ebene voranzubringen, ist die offene Koordinierung zu begrüßen. Allerdings ist sie, wie sie im Weißbuch dargestellt wird, widersprüchlich. Einerseits wird gesagt, dieses Mittel sollte nicht benutzt werden, wenn "legislative action under the Community method" möglich ist, andererseits wird dann dargelegt, die Methode sollte dazu dienen, auszuloten, ob "legislative or programme-based action" notwendig ist. Dieser Widerspruch müsste behoben werden. Dabei erscheint die offene Koordinierung in all den Bereichen sinnvoll, zu denen die Gemeinschaft einen Beitrag leisten will/soll - nicht nur dort, wo keine Kompetenznormen vorhanden sind. Sie sollte nicht nur in weiten Teilen des Sozial- und Arbeitsrechts, der Bildung und Teilweise sogar der Sicherheitspolitik eingesetzt werden, sondern könnte auch zur Überwachung von nationalen Maßnahmen - im Schatten des Gerichtshofes - eingesetzt werden24 . Dies hätte den Vorteil, auch hier eine Politisierung durch Anbindung an die Mitgliedstaaten zu erreichen. Es gilt vor allem zu unterstreichen, dass die offene Koordinierung nicht eine Kompetenzausweitung nach sich zieht. Vielmehr eröffnet sie eine Möglichkeit, von anderen Mitgliedstaaten zu lernen und Erfahrungen auszutauschen. Möglicherweise führt sie dann dazu, dass ein Konsens dahingehend erreicht wird, dass neue Kompetenzgrundlagen notwendig sind, somit positive Integration erfolgt25 . So verstanden ist das Instrument der offenen Koordinierung eine sinnvolle Ergänzung der Gemeinschaftspolitiken26 . Vor allem wird durch sie problembezogen-, und nicht institutionenbezogen gearbeitet. Diesen Ansatz gilt es weiterzuentwickeln.
Auch bei der Durchführung der sekundärrechtlichen Politiken im Rahmen der Komitologie27 würde die vorgeschlagenen Weiterentwicklungen der Gemeinschaftsmethode eine Technokratisierung bewirken. Die Abschaffung von Regelungs- und Verwaltungsausschussverfahren führt zu einem noch konsensualeren, damit leiseren und noch weniger diskursorientiertem Arbeiten der Kommission, da sogar die indirekte Rückbindung an die nationalen Regierungen entfallen würde28 . Dies wäre nur begrüßenswert, wenn im Vorfeld eine größere öffentliche Debatte stattfinden würde, somit die seit der Reform der Komitologie nach Amsterdam mögliche Kontrolle effektiver ausgeübt werden könnte.29
Problematisch ist in diesem Zusammenhang der Ausbau der Regulierungsagenturen. Es ist zu hinterfragen, ob die zu schaffenden Behörden wirklich eine größere Sichtbarkeit und Relevanz für die betroffenen Bereiche nach sich ziehen werden. Schon die vorhandenen Agenturen sind in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt. Zentraler dürfte jedoch sein, dass es in den genannten spezialisierten Bereichen nicht immer notwendig ist, dass die Regeln einer größeren Öffentlichkeit bekannt sind. Eine zu große Erhöhung der Anzahl der Behörden führte zu einer zu großen Zerfaserung und noch größeren Unübersichtlichkeit der EU-Politiken. Ferner würde damit einer Entpolitisierung Vorschub geleistet30 , der sich die Kommission aber sehr wohl bewusst ist (S. 31). Neben den vorgeschlagenen Behörden sollten weitere nur mit großer Zurückhaltung gegründet werden.
Vielfach wird argumentiert, die hier vorgeschlagene Politisierung (auch) durch Parteien sei nicht Aufgabe der Kommission. Diese Rolle müssten die Parteien selber übernehmen. Dies ist sicher richtig. Ohne eine stärkere Anstrengung aller beteiligten Akteure, zuvorderst der Parteien, ist der hier vorgeschlagene Ansatz nicht zu verwirklichen. Allerdings sollen dieser Sichtweise zwei Gegenargumente gegenübergestellt werden.
22 Vgl. hierzu die Mitteilung der Kommission - Ergänzender Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen - Statut der europäischen Parteien KOM 2000/0444.
23 Rainer Stentzel (oben FN 13), S. 176.
24 Fritz Scharpf, (oben FN 8) , S. 9.
25 Dermot Hodson/Imelda Maher, The Open Method as a new mode of governance: The case of soft economic policy co-ordination, in: Wallace, The Changing Politics of the Europeann Union, special edition of the Journal of Common Market Studies, November 2001 (i.E.).
26 Vorsichtig optimistisch für eine bestimmte Form ohne Ausschluss des Parlaments auch der Entwurf eines Berichts über das Weissbuch der Kommission "Europäisches Regieren" vom 3. 10. 2001, Ausschuss für konstitutionelle Fragen (Berichterstatterin: Sylvia-Yvonne Kaufmann), KOM (2001) 428 - C5-INC 01/COS, Rn. 16.
27 Beschluss des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl. 1999 L 184, 23 ff.
28 Fritz Scharpf, (oben FN 8), S. 6 ff. Für eine positive Einschätzung der Komitologie als netzwerkförmiges Verhandlungssystem s. auch Christian Joerges, "Good Governance" Through Comitology?, in: ders/Vos, EU Committees: Social Regulation, Law and Politics, 1999, S. 311 (318 ff.).
29 Kritisch hinsichtlich der praktischen Möglichkeit einer Kontrolle durch EP und Öffentlichkeit Christoph Sobotta, Transparenz in den Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union, 2001, S. 236.
30 Kritisch zum Regieren durch Expertensysteme und die dadurch entstehenden Probleme der funktionalen Koordinierung Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Auflage 1992, S. 426 ff.; diese im Bereich des Umweltrechts besonders häufig anzutreffende Konstellation beschreibt Rudolf Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, S. 387 ff. als "Ersetzung der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung durch die Technostrukur". Kritisch auch der Entwurf eines Berichts über das Weissbuch der Kommission "Europäisches Regieren" vom 3. 10. 2001, Ausschuss für konstitutionelle Fragen (Berichterstatterin: Sylvia-Yvonne Kaufmann), KOM (2001) 428 - C5-INC 01/COS, Rnrn. 8 ff.
31 Fritz Scharpf, (oben FN 8), S 7: "The Heroic Commission" ?; Christian Joerges, "Ökonomisches Gesetz" - "Technische Realisation" - "Stunde der Exekutive": Rechtshistorische Anmerkungen zum Weißbuch der Kommission, http://www.jeanmonnetprogram.org/papers/01/011701.html , S. 10: "Die Stunde der Exekutive", freilich bezogen auf historische Versuche der Rechtfertigung transnationalen Regierens.