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V. Regieren in Europa durch politisierte Netzwerke

Politiktheoretisch ist somit festzuhalten, dass das Weißbuch nicht einen "idealtypischen" governance-Ansatz verfolgt, wobei unterschiedlichste gesellschaftliche Akteure weitgehend gleichberechtigt miteinander interagieren und dadurch Politik gestalten. Vielmehr ist sich die Kommission durchaus bewusst, dass öffentliche Steuerung durch klare Rahmensetzung notwendig ist und parastaatliche Verhandlungssysteme ohne effektive Anbindung an den - in der EU ohnehin noch nicht voll entwickelten parlamentarischen Komplex - noch eine Öffentlichkeit Legitimationsprobleme hervorrufen32. Damit bekennt sich das Papier eher zu den Policy-Netzwerktheorien33 als dem klassischen governance-Ansatz, wie er am deutlichsten in der Theorie der Internationalen Beziehungen entwickelt wurde. Allerdings übersieht das Weißbuch, dass die Kommission, zumindest, solange sie das ausschließliche Initiativrecht hat, durch Instrumentalisierung von politischen Parteien eine Schlüsselrolle für eine notwendige Politisierung der EU spielt. Wird sie dieser Aufgabe nicht gerecht, handelt sie zum Wohl einer Technokratisierung der Gemeinschaftsmethode, nicht "zum Wohl der Gemeinschaft" (Art. 213 Abs. 2 EGV). Parteien sind somit in diesem Zusammenhang ein Vehikel zur Herstellung eines europäischen Diskurses durch Politisierung und Polarisierung. Hierdurch könnte eine europäische Öffentlichkeit geschaffen werden als Voraussetzung einer funktionierenden Mehrebenendemokratie34. Auch ohne Volk, zumindest in seinem klassischen, staatszentrierten Verständnis,35 aber als Öffentlichkeit der Unionsbürger. Öffentlichkeit aber ist, das ist weithin anerkannt, Voraussetzung für jedwede Verfassung. Diese wird, wie Jürgen Habermas es ausdrückt, "erst dann funktionieren, wenn es den durch sie ... angebahnten demokratischen Prozess tatsächlich geben wird"36. Infolgedessen ist Politisierung, die Öffentlichkeit herstellt, eine Voraussetzung für einen funktionierenden europäischen Verfassungsverbund.37 - somit für den Post-Nizza-Prozess und damit für zukünftiges Regieren in Europa.


32 Jürgen Habermas, (oben FN 30) S. 427.

33 Renate Mayntz, Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie, in: Dies; Scharpf, Soziale Dynamik und politische Steuerung, 1995, S. 263 ff.; dies., Policy-Netzwerke und die Logik von Verhandlungssystemen, in: Kenis/Schneider, (oben FN 17), S. 471 ff. Rainer Pitschas, Europäische Integration als Netzwerkkoordination komplexer Staatsaufgaben, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 503 (531 f.)

34 Zu diesem Konzept Gunnar Folke Schuppert, Demokratische Legitimation jenseits des Nationalstaates. Einige Bemerkungen zum Legitimationsproblem der Europäischen Union, in: Heyde/Schaber, Demokratisches Regieren in Europa ? Zur Legitimation einer europäischen Rechtsordnung, 2000, S. 65, (76 ff.).; Vgl. auch Udo Di Fabio, Eine europäische Charta, JZ 2000, S. 737 (739).

35 Das Fehlen eines solchen sowie einer gemeinsamen Sprache macht für Dieter Grimm, JZ 1995, S. 581 (587) Braucht Europa eine Verfassung? eine solche unmöglich.

36 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation, 1998, S. 91 (154).

37 Zu diesem Konzept Pernice,(oben FN 7), S. 164 ff; ders., Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 ff.; Pernice/Mayer, De la constitution composée de l'Europe, RTDeur. 2000, S. 631 ff. = WHI-Paper 1/01, http://www.rewi.hu-berlin.de/WHI/papers/whipapers101/paper101.pdf.

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