Die Position des Präsidenten der Europäischen Kommission ist weitgehend der eines nationalen Regierungschefs vergleichbar, sieht man davon ab, daß er im Gegensatz zum britischen Premierminister oder dem deutschen Bundeskanzler bestenfalls informell die Zusammensetzung seiner Regierung beeinflussen kann. Er ist als primus inter pares hauptsächlich mit exekutiven Aufgaben betraut. Für rein repräsentative Funktionen, wie sie etwa vom deutschen Bundespräsidenten wahrgenommen werden, sieht das gegenwärtige europäische Institutionengefüge hingegen kein gesondertes politisches Amt vor. Im Hinblick auf eine institutionelle Reform wäre die Einrichtung eines solchen Amtes eines Europäischen Präsidenten durchaus sinnvoll. Dem Europäischen Präsidenten käme primär eine symbolische Integrationsfunktion zu. Er würde die Union nach außen repräsentieren und könnte eine wichtige politische Rolle als interner Schlichter und Vermittler zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten oder zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen spielen.
Hieraus ergäbe sich nicht nur zusätzliche politische Schubkraft für den Integrationsprozeß in einem erweiterten Europa. Mit der Einrichtung eines solchen Amtes könnte auf lange Sicht überdies ein wichtiger positiver Nebeneffekt verbunden sein, wenn politische Anreize entsprechend gesetzt werden: die Herausbildung eines europäischen Parteiensystems. Entscheidend hierfür wäre zunächst, daß der Europäische Präsident durch das Europäische Parlament gewählt wird. Während ein solches Vorgehen bei der Bestellung der Kommission angesichts eines fehlenden Parteiensystems aus mitgliedstaatlicher Perspektive kaum akzeptabel erscheint, könnte es bei der Bestimmung eines primär mit repräsentativen und keinerlei exekutiven Funktionen ausgestatteten Amtes gerade als Hebel dienen, um einen europäischen Parteienwettbewerb in Gang zu setzen. So entstünden Anreize für die Herausbildung europaweit agierender Parteien (etwa aus den derzeitigen Fraktionen im Europäischen Parlament), die sich auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten für das Präsidentenamt verständigen müßten. Europawahlen wären damit nicht mehr durch den Wettstreit nationaler Parteien bestimmt, sondern durch den Wahlkampf europäischer Parteizusammenschlüsse.
Die Ausbildung eines funktionsfähigen europäischen Parteiensystems ist nicht von heute auf morgen zu erwarten. Sie ist jedoch von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der europäischen Integration. Die demokratischen Legitimationsdefizite, an denen die Europäische Union zweifelsohne krankt, lassen sich letztlich nur reduzieren, wenn funktionsfähige Institutionen zur Aggregation, Artikulation und Integration politischer Interessen vorhanden sind. So ist es auf lange Sicht durchaus denkbar, auch die Kommission aus dem Parlament hervorgehen zu lassen. Ein europäisches Parteiensystem ist entscheidende Voraussetzung für die Demokratisierung der Union. Seine Entwicklung zu befördern, müßte daher ein zentrales Anliegen einer Reform des derzeitigen Institutionengefüges sein.