M. Rainer Lepsius
This paper is a part of contributions to the Jean Monnet
Working Paper
No.7/00, Symposium: Responses to
Joschka Fischer
Der Entwicklungshorizont der Europäischen Union war stets offen: im Hinblick auf ihre territoriale Ausdehnung, ihre inhaltliche Aufgabenbestimmung und ihre Organstruktur. Aus allen drei Perspektiven hat sich die EU von den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl in den letzten 50 Jahren zu einem komplexen Herrschaftsverband entwickelt. Dieses historisch einmalige politisch-ökonomische Projekt ist ohne Bestimmung seiner "Finalität" kontinuierlich vorangeschritten, war im Ergebnis erfolgreich und hat im Innern wie nach außen Anerkennung gefunden. In der gegenwärtigen Debatte wird nun die Frage nach ihrer "Vollendung" aufgeworfen, wird eine neuer "Verfassungsvertrag" gefordert, werden unterschiedliche Entwürfe für eine abschließende Organstruktur gemacht. Auch zu früheren Zeitpunkten gab es "Verfassungsdebatten". So hatte das Europäische Parlament 1984 den "Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union" vorgelegt. Inzwischen ist durch den Vertrag von Maastricht 1992 die Europäische Union errichtet worden, ohne dass dazu eine neue Verfassung erforderlich wurde. Zahlreiche Verfahrensänderungen haben bislang die Funktionsfähigkeit auch bei erweiterter Mitgliederzahl, neuen Aufgabenfeldern und stärkerer Einbeziehung des Europäischen Parlaments gesichert. Warum dennoch eine erneute "Verfassungsdebatte"?
Für das Denken in Kategorien des Verfassungsstaates scheint es ungewohnt und irritierend zu sein, sich den Herrschaftsverband der EU als einen evolutionären Prozess vorzustellen, als ein Regime-wie man sagt-sui generis. Der offene Horizont soll geschlossen werden. Wird dabei nur ein Bedürfnis nach kognitiver Strukturierung artikuliert? Es gibt aktuellen Handlungsbedarf bei den Entscheidungsverfahren, der Repräsentation der Mitgliedsländer in Kommission und Ministerrat sowie für die Erhöhung der demokratischen Legitimation. Insbesondere für die Repräsentations- und Entscheidungsverfahren bei steigender Mitgliederzahl stehen seit längerem Veränderungen an. Doch daraus allein ergibt sich noch kein Zwang zu einem "Qualitätssprung", zu einer neuen Paktierung der Union. Auf der Regierungskonferenz in Nizza werden die nötigsten Änderungen wohl beschlossen werden, ohne dass sich die Union im ganzen verändern wird. Hinter den Verfahrensänderungen steht ein anderes Motiv für die Eröffnung einer Verfassungsdebatte. Die Osterweiterung gibt zu Sorgen Anlass, die Joschka Fischer in die Alternative fasst: "Erosion oder Integration". Er fürchtet offenbar, dass die Inkorporation von rund 15 Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas den Besitzstand der Gemeinschaft bedroht, eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit verhindert und "das Vertrauen in einen Staatenverbund Stillstand mit all seinen negativen Folgen bedeuten" würde. Die ausgelöste Verfassungsdebatte richtet sich offenbar primär gegen eine befürchtete Erosion des erreichten Integrationsgrades und fordert die Ausdifferenzierung jener Altmitglieder, die eine weitergehende politische Union wollen. Die latente Frontstellung gegen die Neumitglieder ist von diesen auch sofort erkannt worden. Auch früher, etwa bei der "Süderweiterung", wurde die Frage gestellt: Erweiterung oder Vertiefung? Doch diese Alternative hat sich nicht ergeben, die Erweiterung ging mit einer Integrationsverdichtung Hand in Hand. Und wenn die Herstellung einer dauerhaften Friedensordnung im Geltungsbereich der Union deren oberstes Ziel ist, dann könnte die Union auch diesem Ziel Priorität vor einer weiteren Binnenintegration einräumen. Die Osterweiterung-wo immer sie je enden mag-ist ein historisch beispielloser Prozess, auf den die Union sich erst noch einlassen muss. Die Alternative Erosion oder weitere Integration richtet sich auf die "westeuropäische Union", sie vernachlässigt die "osteuropäische Union" und ihre Einbindung in die west-osteuropäische Unionsbildung. Den westeuropäischen Kern noch vor Abschluß der Osterweiterungen politisch zu konsolidieren, ist problematisch. Eine Reihe von Stichworten durchziehen die Debatten, sie sollen im Folgenden kurz kommentiert werden.
© M. Rainer Lepsius 2000