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1. Funktionsfähigkeit

Der Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Ministerrat gilt als zentrales Mittel für die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Union bei steigender Mitgliederzahl. Verzögerungen und Blockaden durch wenige oder ein einzelnes Mitgliedsland sollen verhindert werden, und in der Tat zwingt die Mehrheitsentscheidung die einzelnen Mitgliedsländer zu höherer Elastizität. Niemand möchte gerne zur überstimmten Minderheit gehören, so dass Abwägungen über die jeweiligen Präferenzen und mögliche Koalitionen mit anderen Ländern angestellt werden. Doch Entscheidungen mit einer qualifizierten Mehrheit ersetzen nicht die Suche nach einem möglichst breiten Konsens. Die Mehrheitsregel ist nur ein technisches Mittel, um Verhandlungen zur Konsensfindung abzukürzen.

Die Funktionsfähigkeit der Union wird nicht durch die Möglichkeit, bei immer mehr Sachverhalten mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden, gesichert, sondern durch die Herbeiführung der Entscheidungswilligkeit. Die Mitglieder müssen willens sein, über einen bestimmten Vorschlag der Kommission zu entscheiden. Diese Entscheidungswilligkeit der einzelnen Ländern erfolgt in deren Hauptstädten, vor den Sitzungen des Ministerrates und parallel zur Arbeit der Kommission. Um diese zu gewinnen, verfügt die Union über zwei konsensproduzierende Gremien: die Kommission einerseits und den Gemeinsamen Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten bei der Union (COREPER) andererseits. Bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge tritt die Kommission in umfangreiche deliberative Abstimmungsprozesse mit den Regierungen, den interessierten Verbänden und dem Parlament ein, vermittelt zwischen unterschiedlichen Ansichten und wirbt für die Akzeptanz ihres Vorschlags. Die Kommission entscheidet zwar unabhängig und verbindlich, aber sie weiß, dass ihre Vorlagen nur wirksam werden, wenn sie die Akzeptanz der Mitgliedstaaten finden. Die Vertretungen der Regierungen bei der EU bilden in ihrem Gemeinsamen Ausschuss eine der Kommission nachgeschaltete "Konsensmaschine", die nicht nur die Weisungen ihrer Regierungen schon im Vorfeld mit der Kommission und den Vertretern anderer Regierungen abstimmen, sondern auch die Mehrheitschancen für die Weisungen ihrer Regierungen kalkulieren. Aus der ständigen Einbettung in den Brüsseler Kommunikationsprozess können sie ihren Regierungen empfehlen, Elastizitäten bei einzelnen Punkten zu zeigen und durch Koalitionsbildungen mit anderen Mitgliedern des Ministerrates zur gewinnenden Mehrheit zu gehören. COREPER ist das diplomatische Scharnier zwischen den Ministerien und dem Ministerrat. Er entscheidet nicht nur selbständig über die Masse der Routineangelegenheiten des Ministerrates, er informiert die verschiedenen stimmführenden Minister, er signalisiert zu erwartende Konflikte im Ministerrat und bindet die heimischen Regierungen in die spezifischen Rationalitätskriterien in Brüssel ein.

Funktionsfähigkeit ist nicht nur eine Frage effizienter Entscheidungsregeln, sondern vor allem der gut vorbereiteten und abgestimmten Herbeiführung der Entscheidungswilligkeit. Man sollte nicht glauben, dass mit der qualifizierten Mehrheitsentscheidung die Funktionsfähigkeit der Union schon gesichert sei. Nicht der Entscheidungsprozess ist das Hauptproblem, sondern das Einverständnis der Mitgliedsländer. Dieses wird erreicht über die Akzeptanz von europäischen Rationalitätskriterien, die nicht nur aus nationalen Interessenlagen, sondern durch die kognitive Strukturierung von "europäischen" Problemen und ihrer Lösungswege entstehen. Das ist die Aufgabe der Kommission bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge und der Urteilsbegründungen des Europäischen Gerichtshofes. Beide "operationalisieren" Europa. Das formale Mehrheitsprinzip ersetzt nicht das materiale Konsensprinzip. Europa ist im Konsens entstanden. Die beständige Ausgrenzung von Staaten durch das qualifizierte Mehrheitsprinzip würde die weitere Entwicklung gefährden. Im übrigen beseitigt auch die Erweiterung des Katalogs von Fragen, über die mit Mehrheit entschieden wird, nicht die Einstimmigkeitserfordernis für zentrale Fragen. Strittige und gravierende Probleme, über die der Ministerrat zu keiner Entscheidung kommen kann oder will, können von ihm dem Europäischen Rat vorgelegt werden, und dort herrscht das Einstimmigkeitsprinzip. Blockaden können auch dort eintreten, wie die Ablehnung der Agrarreform der Agenda 2000 durch Frankreich gezeigt hat, oder bei der Unmöglichkeit, den Großbritannien einmal eingeräumten Rabatt auf seinen Mitgliedsbeitrag wieder zu vermindern, wenn Großbritannien dem nicht zustimmt. Europa ist ein Konkordanzregime. Institutionelle Reformen sollten das nicht verändern wollen, denn die Legitimationsbasis liegt im Konsens.


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