Klaus von Beyme
Ab Herbst 1988 wurde man von ausländischen Kollegen und Journalisten pausenlos mit der Frage drangsaliert, ob angesichts der Erosion der DDR die deutsche Einheit drohe. Ich bin dieser Frage stets mit einem Zitat von Joschka Fischer ausgewichen: "Schnauze halten". Das burschikose Diktum bedeutete damals, dass Fischer offenbar nicht-wie die meisten seiner Partei-strikt gegen den Gedanken der Einheit war, dass er es aber für inopportun hielt, sich als Deutscher in dieser offenen Frage aus dem Fenster zu hängen. Heute, wo die Frage einer engeren Einheit Europas diskutiert wird, möchte man Fischer an seine einstige Zurückhaltung erinnern. Seine Lage hat sich gewandelt. Schon nach zwei Jahren in seinem Amt, wurde er im "Sommerloch" der Medienthemen mit Gerüchten über seine Amtsmüdigkeit konfrontiert. Da war der Aufruf zum großen Verfassungssprung in Europa kein schlechter Schachzug, um seine volle Präsenz unter Beweis zu stellen.
Aber er ist immer noch Deutscher-und statt in der Opposition an sehr exponierter Stelle. Deutsche Rufer nach mehr europäischer Integration stehen unter dem Zwang, sich besonders verfassungspatriotisch gerieren zu müssen. Diese Konzentration auf die Verfassungsfrage wird ihnen aber kaum gedankt werden. Jeder Vorstoß in Richtung mehr europäische Einigung wird umgehend als verkappter deutscher Hegemonieanspruch verdächtigt. Der Verdacht verstärkt sich durch den Umstand, dass die alte Diskussion um ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten in eine Debatte um den inneren Kreis der integrationswilligen Mächte überführt wird. Die Vertiefung der Einheit hat durch die simultane Verquickung mit der Osterweiterung der Union eine neue Dimension des Misstrauens gewonnen: die osteuropäische Warteschlange ist-vor allem wirtschaftlich-stärker mit Deutschland verbunden als mit irgendeinem anderen Land in Europa. Nostalgien nach der Entente des alten "cordon sanitaire" der Zeit zwischen den Weltkriegen werden östlich der Oder und südlich des Erzgebirges zugunsten einer Führungsrolle Frankreich gelegentlich noch genährt. Aber das Echo von Präsident, Regierung und Medien in Frankreich auf Fischers Rede erlaubt Zweifel, ob Frankreich zu dieser Motorenrolle wirklich bereit ist.
Alle Analytiker sind sich einig, dass ein europäisches Staatsvolk auch durch eine Verfassung kaum entstehen dürfte. Die Betonung des Verfassungspatriotismus, die sich die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte als Akt der "innerweltlichen Askese" zu Recht auferlegt haben, hat kein Pendant in den anderen europäischen Nationen ohne schlechtes historisches Gewissen. Aber auch sie fragen sich, was der europäische Bürger von einer verfassungsmäßig zementierten Einheit Europas zu erwarten hat und entdecken die Dreiteilung von T.H. Marshall in den "Rechtsbürger", den politisch-demokratischen "citoyen" und den "Sozialbürger". Die Dimension des "kulturellen Bürgers", die jener Dreiteilung hinzugefügt wurde, ist im europäischen Zusammenhang irrelevant.
Auf drei Gebieten nimmt sich die EU in ihren grundlegenden Dokumenten vor, die innere Integration der Bürger voranzutreiben:
a) als Rechtsbürger,
b) als politisch-demokratische Bürger,
c) und als Sozialbürger.
Nur die kulturell-nationale Schiene steht der Gemeinschaft nicht zur Verfügung, um die emotionale Identifikation zu fördern. Das gilt selbst dann, wenn kein enger Hochkulturbegriff angelegt wird. Zur Kultur gehört notfalls der Fußball. Der Europacup zeigt jedoch harten Wettbewerb und keine übernationalen Allianzen. Leute, die vorgeben "null Bock auf Nation" zu haben, werden hysterisch, wenn sich die gegnerische Mannschaft dem Strafraum der eigenen Nationalmannschaft nähert. Nach einer spöttischen Definition wird im Zeitalter des Fußballwahns die Nation durch die Existenz einer Nationalmannschaft definiert. Nach dieser Definition wäre Schottland eine Nation, Bayern nicht. Bayern hat dies kompensiert, als Bayern München sich vielfach wie die Nationalmannschaft aufführte, und diese gelegentlich auch überwiegend stellte. Die kulturelle Identifikation mit Europa bleibt auch bei Kosmopoliten vage. Denn ob das "Abendland" oder ein "europäischer Humanismus" beschworen wird-die Begriffe sind nicht geeignet die USA oder Neuseeland auszuschließen und drängen über die Grenzen Europas hinaus.
© Klaus von Beyme 2000