Jean Monnet Center at NYU School of Law



Der Staat 'über alles'

Footnotes

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[*] Manley Hudson Professor of Law, Harvard Law School. Co-Director, Harvard European Law Research Center; Co-Director, Academy of European Law, European University Institute, Florenz. Ich möchte Ulrich R. Haltern und Franz C. Mayer, beide Yale Law School, für ihre unschätzbare Unterstützung bei der Vorbereitung und Abfassung dieses Beitrages danken. Zenon Bankowski, Meinhard Hilf, Juliane Kokott, Neil McCormick, Jochen Wieland, Armin von Bogdandy und Manfred Zuleeg machten hilfreiche Anmerkungen zu früheren Entwürfen. Für die Übersetzung danke ich Alexander Ballmann, Harvard University, sowie Ulrich Haltern und Franz Mayer. Die übliche Absolution erfolgt mit besonderem Nachdruck: Ich bin alleine für die in diesem Essay vorgetragenen Ansichten verantwortlich.

[1] BVerfGE 89, 155.

[2] Bleckmann, Albert/Pieper, Stefan Ulrich, Maastricht, die grundgesetzliche Ordnung und die "Superrevisionsinstanz". Die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, RIW 1993, 969; Frowein, Jochen A., Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, ZaöRV 54 (1994), 1; Götz, Volkmar, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1993, 1081; Häde, Ulrich, Das Bundesverfassungsgericht und der Vertrag von Maastricht - Anmerkungen zum Urteil des Zweiten Senats vom 12.10.1993, BB 1993, 2457; Herdegen, Matthias, Maastricht and the German Constitutional Court: Constitutional Restraints for an "Ever Closer Union", CMLR 31 (1994), 235; Ipsen, Hans-Peter, Zehn Glossen zum Maastricht-Urteil, EuR 1994, 1; Kokott, Juliane, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - Zum Vertrag von Maastricht, AöR 119 (1993), 207; König Doris, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht - ein Stolperstein auf dem Weg in die europäische Integration?, ZaöRV 54 (1994), 17; Lenz, Carl Otto, Der Vertrag von Maastricht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1993, 3038; Meessen, Karl M., Maastricht nach Karlsruhe, NJW 1994, 549; Schröder, Meinhard, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozeß der europäischen Integration - Bemerkungen zum Maastricht-Urteil, DVBl. 1994, 316; Schwarze, Jürgen, Europapolitik unter deutschem Verfassungsvorbehalt. Anmerkungen zum Maastricht-Urteil des BVerfG vom 12.10.993, NJ 1994, 1, Steindorff, Ernst, Das Maastricht-Urteil zwischen Grundgesetz und europäischer Integration, EWS 1993, 341; Streinz, Rudolf, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuZW 1994, 329; Tomuschat, Christian, Die Europäische Union unter Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, 489; Weber, Albrecht, Die Wirtschafts- und Währungsunion nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, JZ 1994, 53; Wieland, Joachim, Germany in the European Union - The Maastricht Decision of the Bundesverfassungsgericht, EJIL 5 (1994), 259.

[3] Der Europäische Gerichtshof ist der Auffassung, daß im Interesse eines kohärenten Rechtssystems er allein die Autorität besitzt, Maßnahmen der Gemeinschaft zu überprüfen und aus verschiedenen Gründen, einschließlich dem der fehlenden Kompetenz, zu annullieren. Siehe Fall 314/85 Firma Foto Frost vs. Hauptzollamt Lübeck-Ost, [1987] ECR 4199; das Bundesverfassungsgericht hat diese Auffassung behutsam aber deutlich zurückgewiesen: BVerfGE 89, 155 (188).

[4] Zur Debatte um die Möglichkeit eines einseitigen Austritts siehe z.B. Weiler, J.H.H., Alternatives to Withdrawal from International Organizations, 20 Israel Law Review 282 (1985). Das Bundesverfassungsgericht beharrt auf dem Recht der Mitgliedstaaten zu einem einseitigen Austritt: BVerfGE 89, 155 (190).

[5] Verschiedene Punkte wurden vehement kritisiert. Ein Hauptkritikpunkt ist das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts von Art. 38 Grundgesetz, siehe z.B. Ipsen, FN 2, S.2; König, FN 2, S. 19-20, 26-29; Schwarze, FN, S.1-2; vgl. Schröder, FN 2, S. 319. Die Annahme des Bundesverfassungsgerichts, daß Ultra-Vires-Akte von Gemeinschaftsorganen auf deutschem Territorium nicht bindend sind und daß deutsche staatliche Institutionen solche Rechtsinstrumente in Deutschland nicht anwenden dürfen, wurde schwer angegriffen, z.B. von Tomuschat, FN 2, S. 494; Frowein, FN 2, S. 8-10; Schröder, FN 2, S. 323-324; Schwarze, FN 2, S.3; Meessen, FN 2, S. 552-553. Einige Autoren sind darüberhinaus beunruhigt hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht: z.B. Tomuschat, FN 2, S. 495; Schröder, FN 2, S. 323-324; Frowein, FN 2, S. 1-3; Ipsen, FN 2, S. 9-12. Schließlich stößt die Art, wie das Bundesverfassungsgericht die Frage behandelt, ob Deutschland die Europäische Union verlassen könnte, auf Ablehnung: z.B. Frowein, FN 2, S. 10-12; Götz, FN2, S.1085; Ipsen, FN 2, S. 15-17; König, FN 2, S. 33-35; Schwarze, FN 2, S.4; Tomuschat, FN 2, S. 494-495. Gelegentliche Kritik wurde hinsichtlich der folgenden Punkte geäußert: Der neue Artikel 23 Grundgesetz, der auf den Maastrichter Vertrag zugeschnitten wurde, sei nicht in ausreichendem Maße als sedes materiae gewürdigt worden (Tomuschat, FN 2, S. 492-493); weiter kritisiert wurde die neu geschaffene Begrifflichkeit eines 'Staatenverbundes' (Frowein, FN 2, S.7; Ipsen, FN 2, S. 8-9; Weber, FN 2, S. 60; Steindorff, FN 2, S. 344-345).

[6] Der Entscheidung sind keine abweichenden oder ablehnenden Voten beigefügt. Bemerkenswert ist aber das Fehlen des üblichen Hinweises, daß die Entscheidung einstimmig erging..

[7] Siehe unten, Text zu FN 44.

[8] Siehe unten, FN 42.

[9] Siehe jedoch Tomuschat, Schwarze, FN 2, S. 496. Ein kürzlich erschienener Beitrag Brydes bezieht sich zwar nicht primär auf die Maastricht-Entscheidung, erfaßt aber scharf die dieser Entscheidung zugrundeliegenden tieferen Verständnisse: Bryde, Brun-Otto, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, 305.

[10] Ich möchte nicht den grundsätzlichen guten Glauben des Bundesverfassungsgerichts in Zweifel ziehen, aber dieses Zitat ist recht merkwürdig. Wie wir sehen werden, zitiert das Bundesverfassungsgericht, gerade wenn es zu den heikelsten Passagen kommt, in denen es sein Verständnis von Volk und die Notwendigkeit der Homogenität darlegt, Hermann Heller: "Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es - relativ homogen - geistig, sozial und politisch verbindet (vgl. hierzu H.Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, Gesammelte Schriften, 2.Band, 1971, S. 421 [427 ff.]), rechtlichen Ausdruck zu geben." (BVerfGE 89, 155 [186]). Ob Hellers Konzept der sozialen Homogenität die Kein-Demos-These wirklich trägt oder nicht (es könnte auch das genaue Gegenteil unterstützen): Es scheint doch so, daß die Arbeiten anderer Autoren viel geeigneter als Beleg für die Position des Bundesverfassungsgerichts gewesen wären, z.B. Isensee (zum Verständnis von Volk vor und nach 1993 vgl. Lepsius, Oliver, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklung in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994, S. 13 ff.); oder gar Schmitt selbst, vgl. Schmitt, Carl, Verfassungslehre, München/Leipzig 1928, S. 231. Ich kann es mir nicht anders denken, als daß das Bundesverfassungsgericht es, in Anbetracht von Hellers Biographie und seiner Anschauungen, einfach zweckmäßig fand, ihn anstatt anderer zu zitieren. (Man beachte, daß Hellers Artikel, der ursprünglich direkt hinter Schmitts Artikel "Der Begriff des Politischen" in: Politische Wissenschaft, Heft 5: Probleme der Demokratie, Berlin 1928, abgedruckt war, gleich zu Beginn kritisch auf Schmitt verweist). Zu Heller allgemein siehe Müller, Christoph, Hermann Heller, in Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen: eine andere Tradition, Baden-Baden 1988, S. 268-281. Ich denke nicht, daß ich mit diesem Verständnis alleine bin: vgl. Ipsen, FN 2, S. 17; ausführlich nunmehr Pernice, Ingolf, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, Archiv des öffentlichen Rechts 120 (1995), S. 100. Diese Strategie, sich auf Referenzen zu beziehen, die eigentlich für andere oder sogar entgegengesetzte Konzepte stehen - womit auf subtile Weise zusätzliche Legitimität und Übereinstimmung im Hinblick auf die eigenen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts suggeriert wird -, taucht auch in der 'Zitierung' von Zuleeg auf: BVerfGE 89, 155 (210). Zuleeg hat die Verweisung auf ihn nicht anerkannt: "Erklärung. Zum Urteil des BVerfG vom 12.10.1993 (2 BvR 2134/92 u. 2 BvR 2159/92) stelle ich fest: Die Aussagen, für die ich auf S. 80 der vervielfältigten Fassung zitiert werde, stammen nicht von mir. Ich weise an der angegebenen Stelle auch nicht auf andere Autoren hin, die sich in diesem Sinne geäußert haben. Ich bin der Auffassung, daß die Kompetenzgrenzen der Gemeinschaft ernst zu nehmen sind. Ich kann in der Rechtsprechung des EuGH keine Anzeichen entdecken, daß er nicht auf die Einhaltung der Kompetenzvorschriften achtet. Professor Dr. Manfred Zuleeg, Richter am EuGH" (JZ 1993, 1112).

[11] Traurig, aber insgesamt nicht überraschend: vgl. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer, BVerfGE 83, 37 und 83, 60,

[12] BVerfGE 89, 155 (182 ff.)

[13] Zur Komplexität und der inneren Widersprüchlichkeit der Suche nach Demokratie und Legitimität für und in Europa siehe Weiler, J.H.H., Parlement Européen, Intégration Européen, Démocratie et Légitimité, in Louis/Waelbroeck (Hrsg.), Le Parlement Européen, Brüssel 1988; Weiler, J.H.H., The Transformation of Europe, 100 Yale Law Journal 2403 (1991), S. 2466.

[14] Kirchhof, Paul, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII: Normativität und Schutz der Verfassung - Internationale Beziehungen, Heidelberg 1992, S. 855; Kirchhof, Paul, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in Isensee, Josef (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, S. 63; Kirchhof, Paul, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in Kirchhof Paul/Ehlermann, Claus-Dieter, Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Europarecht, Beiheft 1/1991, Baden-Baden 1991, S. 11. Es ist bemerkenswert, wie leicht sich sogar semantische Parallelen zwischen Paul Kirchhofs juristischen Publikationen und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - an der Kirchhof als Berichterstatter mitwirkte - finden lassen; vgl. Tomuschat, FN 2, S. 493. Darüber hinaus wurde kritisiert, daß er seine Meinung zu diesem Fall überhaupt publiziert hat: vgl. Schwarze, FN 2, S. 2.

[15] Z.B. Isensee, Josef, Nachwort. Europa - die politische Erfindung eines Erdteils, in J. Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, FN 14, S. 103; Ossenbühl, Fritz, Maastricht und das Grundgesetz - eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, S. 629 (634); Di Fabio, Udo, Der neue Artikel 23 des Grundgesetzes, Der Staat 1993, S. 191, (202 ff.)

[16] Kirchhof, HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 18, erwähnt ausdrücklich die 'kritische Loyalität' und kritisiert gleichzeitig die Tendenz zum Gegenteil in Deutschland: "In der deutschen Entwicklung - vielleicht insbesondere seiner Religionsgeschichte - scheint es geradezu eine bewußt gepflegte Geste demonstrativen Zweifelns und grüblerischen Protests zu geben, die sich eher zum Widerstand gegen die Staatsgewalt als zu kritischer Loyalität in Mitverantwortung innerhalb des Staates berufen fühlt."

[17] Vgl. Kirchhof, Paul, Deutsche Sprache, in Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S. 745, Rdnr. 33: "Die sprachliche Homogenität konstituiert das deutsche Staatsvolk." Kritisch dazu Schwarze, FN 2, S. 4: "provinzieller Zuschnitt".

[18] Kirchhof betont diese Punkte durch die Verweisung auf die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika (1787), der Schweiz (1848) und des Norddeutschen Bundes (1866), HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 38: "Dort allerdings waren die Grundlagen der Staatenbildung - ein zusammengehöriges, vom Willen zu einem gemeinsamen Staat bestimmtes Staatsvolk, eine wirtschaftliche und kulturelle Homogenität und eine - mit Ausnahme der Schweiz - prägende Gemeinsamkeit der Sprache vorhanden." Ders., Rdnr. 41: "[...][die] in gemeinsamer Geschichte, Sprache und Kultur gewachsenen, in gemeinsamem Schicksal zusammengehörigen Staatsvölker und ihrer Staaten [...]". Ich werde weiter unter etwas andere Lesarten dieser Ereignisse vorstellen.

[19] Kirchhof, HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 25: "Die europäischen Staaten der Gegenwart schirmen sich somit nicht gegenüber anderen Staaten oder Bürgern anderer Staaten ab, bewahren aber ihre Eigenständigkeit in einem durch Geburt und Herkunft verwandten Staatsvolk, einem ihm zugehörigen Raum und der kulturellen Gemeinsamkeit von Sprache, Religion, Kunst und geschichtlicher Erfahrung." Isensee, Josef, Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung, in : Schwab, Dieter/Giesen, Dieter/Listl, Joseph/Strätz, Hans-Wolfgang (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft - Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, Berlin 1989, S. 705 (708): "Die rechtliche Einheit des Volkes ist auf Dauer nur lebensfähig, wenn sie sich auf eine reale Grundlage stützen kann: auf ein Mindestmaß effektiver Homogenität als Grundbestand an Gemeinsamkeiten, wie sie Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur und Interessen hervorbringen können [...]." Vgl. auch Isensee, Nachwort, FN 15, S. 122: "Ohne ein gewisses Maß an Homogenität kann kein Staat bestehen. Der Wille zur politischen Einheit, der eine Menschengruppe zum Volk als Nation und damit zum möglichen Subjekt demokratischer Selbstbestimmung werden läßt, knüpft an objektive Vorgegebenheiten an, etwa geopolitische Lage, wirtschaftliche Interessen, Geschichte, Sprache, zivilisatorische Standards, Ethos, Kultur, Religion." Ähnlich, auf jeglichen 'Bund' verweisend und mit zahlreichen Zitaten von Schmitt: Faßbender, Bardo, Zur staatlichen Ordnung Europas nach der deutschen Einigung, EA 1991, 395 (401). Vgl. die mystischen Konnotationen, die von Isensee in die Debatte geworfen wurden: Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, s. oben, S. 709 f.: "Das Bild des Staatsvolkes [...] ist die politische Schicksalsgemeinschaft, in welche die einzelnen Bürger eingebunden sind." - "So liegt in der grundsätzlich dauerhaften und grundsätzlich ausschließlichen personalen Zugehörigkeit zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft eine Gewähr für demokratisches Bürgerethos." (Hervorhebungen von mir) Ich bin natürlich nicht der erste, der diese 'Ikonographie' der Volkszugehörigkeit beobachtet und kritisiert, vgl. Habermas, Jürgen, Staatsbürgerschaft und nationale Identität (1990), in: Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/Main 1992, S. 632 (633). Sehr kritisch ist auch Rittstieg, Helmut, Staatsangehörigkeit und Minderheiten in der transnationalen Industriegesellschaft, NJW 1991, 383 (1386), mit ausdrücklichem Verweis auf Isensee. Erstaunlich ist die Art, wie diese Terminologie vom Bundesverfassungsgericht angenommen wurde, vgl. BVerfGE 83, 37 und 83, 60.

[20] In diesem heiklen Kontext zitiert das Bundesverfassungsgericht Hermann Heller als Autorität. Siehe FN 10.

[21] Vgl. z.B. Kirchhof, HdbStR VII, FN 14, Rdnrn. 38 und 41.

[22] Grawert, Rolf, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I (FN 17), S. 633, Rdnr. 10.

[23] Kirchhof, HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 27: "Der Gedanke der Nation [erklärt] [...] den Staat aus der Mitte der kulturellen, religiösen, ökonomischen und politischen Vorbefindlichkeiten [...]." Rogers Brubaker behauptet, daß die grundsätzliche ethno-kulturelle Konzeption der Nation sogar im Grundgesetz wahrgenommen werden kann: Brubaker, Rogers, Einwanderung und Nationalstaat in Frankreich und in Deutschland, Der Staat 1989, 1 (15) ("man [kann] eine grundsätzliche ethno-kulturelle Konzeption der Nation sogar im Grundgesetz der Bundesrepublik erkennen"].

[24] Diese Idee ist nicht wirklich neu, vgl. Schmitt, Verfassungslehre, FN 10, S. 251 ("Volk=Nation=Staat"). Ebenda, S. 231: "Ein demokratischer Staat, der in der nationalen Gleichartigkeit seiner Bürger die Voraussetzungen seiner Demokratie findet, entspricht dem sog. Nationalitätsprinzip, nach welchem eine Nation einen Staat bildet, ein Staat eine Nation umfaßt. Ein national homogener Staat erscheint dann als etwas Normales; ein Staat, dem diese Homogenität fehlt, hat etwas Abnormes, den Frieden Gefährdendes." Nur leicht abgeschwächt Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 9, S. 709, der die Nation als optimale Voraussetzung für den Staat versteht: "Der rechtliche Staatsverband muß nicht auf nationaler Einheit gründen. Auch die Demokratie setzt sie nicht notwendig voraus. Gleichwohl bildet sie ihre optimale Voraussetzung. Eine Nation besteht ihrer Idee und ihrem Selbstbewußtsein nach vor Staat und Verfassung. Sie begreift sich als politische Einheit und strebt danach, diese in staatlicher Form zu organisieren."

[25] Siehe z.B. Verdross, Alfred, Völkerrecht, Berlin 1937, S. 39-41.

[26] Kirchhof beschreibt den Staat als "Herrschaftsorganisation", vgl. HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 31: "Der Inhaber der Staatsgewalt sichert den Zusammenhalt des Staates durch Entscheidung und Zwang, der Staat hebt seine Staatsangehörigen von Fremden rechtlich und tatsächlich ab, beansprucht Führung, indem er Eigenes vom Allgemeinen, Zugehöriges vom Fernstehenden unterscheidet. Die Staatstheorie betont den Gegensatz von Freund und Feind, um dem Denken und Handeln eine verläßliche Ausrichtung zu geben." Kirchhofs einzige Fußnote in diesem Kontext verweist auf Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, S. 13 ff (bes. S. 17).

[27] Der Nexus in den Augen des Gerichts zwischen Demos - verstanden in diesem ethno-kulturellen Sinn - und Demokratie ist ebenfalls ganz deutlich in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer (BVerfGE 83, 37; 83, 60). Die beste theoretische Arbeit zu politischen Grenzen und ihrem Verhältnis zur Demokratie, die ich kenne, ist Dahl, Robert A., Democracy and its Critics, New Haven/London 1989, S. 19 ff. Vgl. zur Verbindung zwischen Demokratie und Volk BVerfGE 89, 155 (182); Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I (FN 17), S. 887. Rdnr. 10 ff.

[28] Dieser Punkt wird von Dahl, FN 27, S. 146-148, angesprochen.

[29] Natürlich gibt es, wie ich noch darlegen werde, weniger volksbezogene/nationalistische Wege, sich ein Gemeinwesen vorzustellen, Wege, die transnationale Formen von Demokratie erlauben würden. Vgl. Dahl, FN 27, S. 317 ff., der, nachdem er einen kurzen Überblick über die Wandlung von Demokratie mit einem beschränkten Demos, wie etwa in den Stadtstaaten des antiken Griechenland oder in Rom, zum erweiterten Rahmen der politischen Ordnung im Nationalstaat gibt, eine weitere Ausdehnung der Grenzen von Demokratie durch die Verbreitung transnationaler Aktivitäten und Entscheidungen voraussagt.

[30] Siehe Carty, Anthony, Alfred Verdross und Othmar Spann, German Romantic Nationalism, National Socialism and International Law 6 EJIL 78-97 ( 1995).

[31] Kirchhof, HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 2: "Die Entwicklung einer kulturellen Einheit in Europa ist ausgeschlossen, weil in der Gemeinschaft neun verschiedene nationale Sprachen gesprochen werden [...]." Ebendort, Rdnr. 37: "Das Sprachbild einer "verfassungsgebenden Gewalt" des zustimmenden Staatsvolkes kann auch das Entstehen eines europäischen Staates nicht ausreichend rechtlich erfassen. Es erklärt nicht, warum die Bildung eines neuen Staates in seiner anderen Verfaßtheit die gegenwärtig nicht mit abstimmenden, nachfolgend aber stimmberechtigten Staatsbürgern binden sollte. Es rechtfertigt nicht, warum der entstehende Staat - etwa die Gemeinschaft der Zwölf - andere Staaten und Staatsbürger ausgrenzt und damit ihre europäische Ausgangslage tiefgreifend verändern darf. Es vermag aber vor allem seine eigenen Prämissen nicht zu begründen, nämlich die Gemeinsamkeit eines zusammengehörigen europäischen Staatsvolkes: eine Mindesthomogenität in den staatsrechtlichen Grundauffassungen, eine für jedermann zugängliche Rechtssprache, wirtschaftliche und kulturelle Ähnlichkeiten oder zumindest Annäherungskräfte, die Fähigkeit zum politischen Austausch durch gesamteuropäisch wirkende Medien, ein in Europa bekanntes Führungspersonal und europaweit tätige Parteien." Ebendort, Rdnr. 52: "Eine Europäisierung ohne ein sich vorausentwickelndes europäisches Bewußtsein und damit ohne ein europäisches Volk mit konkreter Fähigkeit und Bereitschaft zur gemeinsamen Staatlichkeit wäre ideengeschichtlich uneuropäisch." Vgl. ebenfalls Kirchhofs Ausführungen hinsichtlich der Wirtschaftsgemeinschaft als Basis der Staatlichkeit, Rdnr. 10: "Eine im Handlungsziel und Rechtsmaßstab derart begrenzte Wirtschaftsgemeinschaft mag zwar anfangs als Vorstufe eines staatsähnlichen Verbundes gedacht gewesen sein, ist aber in ihren Kompetenzen und Befugnissen nicht darauf angelegt, sich zu einer umfassenden Staatlichkeit fortzubilden. [...] Insofern ist eine Wirtschaftsgemeinschaft keine Demokratie, die sich veranlaßt sähe, ihr Entstehen und ihre Entwicklung kontinuierlich auf den Willen der Marktbürger abzustimmen. Auch das Anliegen einer gemeinsamen Sprache, eines politischen Zusammenhalts und einer rechtlich geprägten Einheit treten in einer Wirtschaftsgemeinschaft zurück [...]." Vgl. auch Kirchhof, in Europarecht Beiheft 1/1991, FN 14, S.12: "Die Europäische Gemeinschaft (EWG) hingegen ist eine internationale Organisation, die nicht die Marktbürger zu einem Staatsvolk der 'EWG-Bürger' zusammenfaßt, insbesondere kein umfassendes Schutz- und Gehorsamsverhältnis begründet." Vgl. auch explizit Isensee, Nachwort, FN 15, S. 133-134: "[E]s gibt kein europäisches Volk, sondern nur die Völker der europäischen Staaten. [...] Auch die Einführung einer rechtlich formalisierten Unionsbürgerschaft, die durch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates vermittels wird, vermag kein Unionsvolk als politische Einheit zu schaffen: keine Europanation. Eben damit fehlt auch das Subjekt für eine mögliche europäische Demokratie: das europäische Volk. Es gibt keine Demokratie ohne Demos. [...] Da [der Europäischen Gemeinschaft] das Volk fehlt, ermangelt ihr ein Staatselement, mithin die verfassungspolitische Fähigkeit, aus sich heraus Demokratie zu bilden."

[32] Und daher auch kein Staat: vgl. BVerfGE 89, 155 (188): "Der Unionsvertrag begründet - wie ausgeführt - einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas (Art.A EUV), keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat." (Hervorhebungen von mir).

[33] Und einige andere: vgl. Grimm, Dieter, Mit einer Aufwertung des Europa-Parlaments ist es nicht getan. - Das Demokratiedefizit der EG hat strukturelle Ursachen -, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd.6 (1992/93), S.13.

[34] BVerfGE 89, 155 (185): "Demokratie, soll sie nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln [...] und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen verformt. Dazu gehört auch, daß die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind, und ebenso, daß der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann. Derartige tatsächliche Bedingungen können sich, soweit sie noch nicht bestehen, im Verlauf der Zeit im institutionellen Rahmen der europäischen Union entwickeln. Eine solche Entwicklung hängt nicht zuletzt davon ab, daß die Ziele der Gemeinschaftsorgane und die Abläufe ihrer Entscheidungen in die Nationen vermittelt werden. Parteien, Presse und Rundfunk sind sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus dem heraus sich eine öffentliche Meinung in Europa zu bilden vermag (vgl. Art. 138a EGV)." (Hervorhebungen von mir).

[35] Z.B. Grimm, FN 33, S. 16: "Eine europäische Öffentlichkeit und einen breiten öffentlichen Diskurs auf europäischer Ebene wird es deswegen noch auf längere Zeit nicht geben. Ein europäisches Staatsvolk, dem die europäische Hoheitsgewalt zugerechnet werden könnte, ist nicht einmal in Sicht."

[36] Siehe Isensee, Nachwort, FN 15, S. 137: er steht dieser Idee eindeutig negativ gegenüber ("Schon die Sprachenvielfalt bildet hier ein Hindernis für den allgemeinen, direkten Diskurs der Demokratie. Alles spricht gegen die staatliche Einheit: Reichtum an kollektiver Individualität, Verdichtung des Lebens in gedrängten Räumen, historische Tiefe und kulturelle Gegensätze, die Runzeln und Falten, die Abgründe eines alten Erdteils. Vielleicht werden alle diese Besonderheiten Europas einmal aufhören zu existieren, nivelliert von einer kosmopolitischen Zivilisation oder überlagert durch Einwanderer aus anderen Weltgegenden. Am Ende mag es sein, daß Deutschland und Italien sich zueinander verhalten werden wie Kansas und Texas, daß auch hier der amerikanische Traum aufgeht: von der einen, neuen Gesellschaft, multikulturell und uninational. Doch wenn der amerikanische Traum sich auf dem alten Kontinent verwirklichen sollte, wäre der europäische Traum zu Ende. Mit ihm die Realität des politischen Europa."). Ähnlich Bundesverfassungsrichter Klein, Hans Hugo, Europa - Verschiedenes gemeinsam erlebt. Es gibt kein europäisches Volk. sondern die Völker Europas, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Oktober 1994, S. 12.

[37] Vgl. Kirchhofs Behauptung in HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 33; "Demokratie setzt eine Vergemeinschaftung im Staatsvolk voraus." Explizit auf die Europäische Gemeinschaft bezogen, ebendort, Rdnr. 53: Die Europäische Gemeinschaft kann nicht auf demokratischer Legitimation beruhen, "die Repräsentation durch das Europäische Parlament [stützt] sich [...] nicht auf ein Staatsvolk". Isensee, Nachwort, FN 15, S. 133: "Es gibt keine Demokratie ohne Demos." Weniger rigoros BVerfGE 89, 155 (186): "Vermitteln die Staatsvölker - wie gegenwärtig - über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation, sind mithin der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt."

[38] Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 19, S. 727: "Demokratie entwickelt sich legitim nur innerhalb des Demos, aus dem und für den sie besteht."

[39] Vgl. Weiler, Parlement Européen, FN 13.

[40] BVerfGE 89, 155 (184).

[41] Zur Notwendigkeit, analytisch zwischen Legitimität und Demokratie zu trennen, siehe Weiler, Parlement Européen, FN 13.

[42] BVerfGE 89, 155 (183-184)

[43] Weiler, Parlement Européen, FN 13.

[44] Vgl. in diesem Zusammenhang Fritz Ossenbühl, FN 15, S. 637: "die deutsche Staatsrechtslehre [hat] lange Zeit im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Fragen der europäischen Integration in einem Dornröschenschlaf gelegen."

[45] Weiler, The Transformation of Europe, FN 13.

[46] Weiler, The Transformation of Europe, FN 13, Part II.

[47] 31 Journal of Common Market Studies 418 (1993).

[48] Weiler, Parlement Européen, FN 13.

[49] BVerfGE 37, 271.

[50] BVerfGE 73, 339.

[51] Siehe Weiler, Parlemet Européen, FN 13, zur Möglichkeit der Koexistenz von formaler und sozialer Legitimität und defizitären materiell-demokratischen Prozessen.

[52] Vgl. z.B. Dellavalle, Sergio, Für einen normativen Begriff von Europa: Nationalstaat und europäische Einigung im Lichte der politischen Theorie, in v. Bogdandy, Armin, Die Europäische Option, Baden-Baden 1993, S. 237, (253): "[Es fehlen] sowohl die sprachliche als auch die kulturelle und religiöse Einheit, die rassische Homogenität sowie die Möglichkeit eines Rückgriffs auf eine gemeinsame historische Vergangenheit." Dies scheint für die meisten Autoren so offensichtlich zu sein, daß sie sich mit der Möglichkeit einer organisch-kulturellen oder nationalen europäischen Identität nicht einmal beschräftigen. Es wird jedoch wenigstens diskutiert, ob es eine europäische 'politische Öffentlichkeit' (siehe Habermas, FN 19, S. 645 und 650 und Lepsius, M. Rainer, Der europäische Nationalstaat: Erbe und Zukunft, in Lepsius, M. Rainer, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 256 (266)) oder eine europäische öffentliche Meinung (siehe z.B. Lepsius, M. Rainer, Die Europäische Gemeinschaft, Beitrag zum 20. Deutschen Soziologentag, Frankfurt/Main 1990, zitiert in Habermas, FN 19, S. 646) gibt. Es wird sogar behauptet, daß die außergewöhnliche Vielfalt kultureller, politischer und religiöser Traditionen - die mit einander konfligierten und dadurch Toleranz und gegenseitige Bereicherung schufen - den charakteristischen Zug und vielleicht sogar das einigende Element Europas bildet; vgl. Dellavalle, in dieser FN, S. 253, mit weiteren Literaturhinweisen.

[53] Diese Beobachtung wurde bereits von dem gleichen Heller gemacht, den das Gericht für seine Homogenitätsthese zitiert. Siehe Heller, Hermann, Staatslehre, Leiden 1934, S. 164: "Weder das Volk noch die Nation dürfen als die gleichsam natürliche Einheit angesehen werden, die der staatlichen Einheit vorgegeben wäre und sie selbsttätig konstituierte. Oft genug war es [...] umgekehrt die staatliche Einheit, welche die "natürliche" Einheit des Volkes und der Nation erst gezüchtet hat." Ich bin hier ganz offensichtlich anderer Meinung als Kirchhof, der behauptet, daß Deutschland im 19. Jahrhundert (1866) ebenso wie die Vereinigten Staaten 1787 ein Beispiel wirtschaftlicher und kultureller Homogenität, gemeinsamer Sprache und eines Volkes, das dem Staat vorausgeht, darstellen: HdbStR VII, FN 14, Rdnr. 38. Vielleicht ist die Differenz in der Perspektive lediglich eine Version des Bildes vom halbvollen, halbleeren Glas. Alexis de Tocqueville besaß hinsichtlich der USA scheinbat eine etwas andere Auffassung als Paul Kirchhof. In einem Brief an Ernest de Chabrol vom 9. Juni 1831 beschreibt er, wie die Amerikanische Gesellschaft "[...] formed of all the nations of the world [...] people having different languages, beliefs, opinions: in a word, a society without roots, without memories" zu einem Volk werden konnte. Seine Antwort, wie es scheint, war, daß Nationen auf der Basis von Werten, wie denen der amerikanischen Verfassung - Demokratie, Selbst-Regierung, Gleichheit, etc. - gegründet werden können. Boesche, Roger (Hrsg.), Alexis de Tocqueville, Selected Letters on Politics and Society, Berkely 1985, S. 38. Ich berufe mich hier auf die aufschlußreiche Vorlesung von Arthur Schlesinger jr., Multiculturalism and the Bill of Rights, 46 MELR 191 (1994), in der Tocquevilles Position zitiert und herausgearbeitet wird.

[54] Auf dieses Problem sind bereits andere gestoßen, z.B. Brubaker, Rogers, Citizenship and Nationhood in France and in Germany, Cambridge, Mass./London 1992, S. 50; siehe auch Grawert, HdbStR I, FN 22 Rz. 47 ff., und Habermas, FN 19, S. 638 f

[55] Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht wird von jeher vom Abstammungsprinzip (Ius sanguinis) dominiert, wonach grundsätzlich nur Abkömmlinge deutscher Staatsangehöriger die deutsche Staatsangehörigkeit erlangen, vgl. §4 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913. Im Gegensatz zum Ius soli-Prinzip impliziert das Ius sanguinis-Prinzip eine ablehnende Haltung gegenüber Zuwanderung und ein ganz bestimmtes Konzept von Staatsangehörigkeit. Das Prinzip war 1913 sehr bewußt gewählt worden, um die ethnische Tradition des deutschen Nationalstaates zu erhalten und zu fördern. (Rittstieg, FN 19, S. 1387.)

[56] Vgl. Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 19, S. 735, der die Funktion der Staatsangehörigkeit beschreibt als "die nationale Einheit und die deutsche Identität zu gewährleisten"; siehe auch Bleckmann, Albert, Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörigkeit?, NJW 1990, 1397, der zwischen einer formalen Staatsangehörigkeit (der 'normalen' Staatsangehörigkeit) und einer materiellen Staatsangehörigkeit (der Zugehörigkeit zur Nation) unterscheidet (vgl. ebd., S. 1399: "[D]as Staatsangehörigkeitsrecht [darf] nur solchen Personen die deutsche Staatsangehörigkeit verleihen. welche der deutschen Nation angehören, also in hinreichendem Maße in die deutsche Kulturnation integriert sind.").

[57] Aus den Regeln zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit außerhalb des Erwerbs durch Abstammung ergeben sich vielsagende Hinweise auf die Grundkonzeption deutschen Staatsangehörigkeitsrechts (vgl. Rittstieg, FN 19, S.1387: "Die Einbürgerungsrichtlinien aus dem Jahre 1977 und ihre praktische Handhabung entsprechen ohne Einschränkung der völkischen Tradition des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes"): Einbürgerung erfordert in Deutschland u.a. die "freiwillige und dauernde Hinwendung zu Deutschland" (Einbürgerungsrichtlinien von Bund und Ländern vom 15.12.1977, 3.1 und 3.1.1. [GMBl. 1978, 16. letzte Änderung durch Rundschreiben BMI 7.März 1989, GMBl. 1989, 185]); nebenbei bemerkt verwundert es nicht, daß diese Bestimmungen in Verwaltungsrichtlinien vergraben sind.

[58] vgl. die folgenden Essays von Scholem, Gershom Gerhard, Against the Myth of the German-Jewish Dialogue; Once More: The German-Jewish Dialogue; Jews and Germans, in Scholem, Gershom Gerhard, On Jews and Judaism in Crisis: Selected Essays, New York 1976.

[59] Die 'Forderung nach ethnischer Assimilierung' (Rittstieg, FN 19, S. 1385) wurde - vor kurzem erst - folgendermaßen abgeschwächt: seit 1. Januar 1991 ist es für Ausländer zwischen 16 und 21, die für acht Jahre ununterbrochen in Deutschland gelebt haben, leichter, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben (kein freies Verwaltungsermessen mehr); davon abgesehen kann die Einbürgerung Ausländern, die in Deutschland aufgewachsen und ausgebildet worden sind und mindestens 15 Jahre ununterbrochen in Deutschland gelebt haben, nicht mehr ohne besondere Umstände verweigert werden. (Regelanspruch nach §§ 85 und 86 Ausländergesetz).

Allerdings muß auch in diesen Fällen eine frühere Staatsangehörigkeit aufgegeben werden.

[60] Obwohl mehrfache Staasangehörigkeit immer wieder auftritt und unter bestimmten Umständen auch in Deutschland zulässig ist, betrachten das Bundesverfassungsgericht und andere deutsche Gerichte, ebenso wie weite Teile der deutschen Staatsrechtslehre und auch die Bundesregierung mehrfache Staatsangehörigkeit als 'Übel' (BVerfGE 37, 217 (254); BVerwGE 64, 7 (10); v.Mangoldt, Probleme mehrfacher Staatsangehörigkeit, JZ 1993, 965 (969); Einbürgerungsrichtlinien, FN 57, 5.3; Verlautbarung der Bundesregierung im Bundestag, Bundestagsdrucksache 12/2035, bezugnehmend auf Frage 4). Gestützt wird dies auf ein vorgebliches Prinzip des Völkerrechts, was äußerst zweifelhaft ist (vgl. auch Rittstieg, Helmut, Doppelte Staatsangehörigkeit im Völkerrecht, NJW 1990, 1401 (1403).

[61] Volk im ethno-kulturellen Sinne, siehe Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 19, S. 724: sie gehören zum "Volk als vor-rechtlicher, ethnisch-kultureller Einheit").

[62] Ich habe bestimmt nicht vor, mich in das Miasma des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts vorzuwagen. Jedoch erscheint es typisch für die deutsche Konzeption von Staatsangehörigkeit, daß ein Gedanke wie 'deutscher Volkszugehöriger' im Staatsangehörigkeitsrecht, und zwar im Zusammenhang mit Einbürgerungsbestimmungen und bei der Frage, wer als Deutscher im Sinne des Grundgesetzes gilt, von Relevanz ist: der Begriff 'Volkszugehöriger' wurde vom Gesetzgeber des Jahres 1938 eingeführt. In einem Rundschreiben von 1939 (Runderlaß des RMI vom 29.3.1939 [RMBliV 783]) definierte der Innenminister die kulturellen und rassischen Kategorien des Begriffes ("Deutscher Volkszugehöriger ist, wer sich selbst als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Erziehung, Kultur, usw. bestätigt wird. Personen artfremden Blutes, insbesondere Juden, sind niemals solche Volkszugehörige, auch wenn sie sich bisher als solche bezeichnet haben.") Nach Kriegsende taucht die Formulierung in entschärfter Fassung wieder auf, § 6 BVFG: "Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.", die enge Anlehnung an die Definition von 1939 ist offensichtlich (Makarov, Alexander/von Mangoldt Hans, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, 10. Lieferung August 1993, Neuwied, Abschnitt 11, Paragraph 5). In Verwaltungsrichtlinien wird der Begriff 'Volkszugehöriger' an die Idee der Nation geknüpft, siehe z.B. für Bayern die bei Makarov/Mangoldt, ebd., Abschnitt 2, Paragraph 26 zititierten Richtlinien: "Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum setzt das Bewußtsein und den Willen voraus, ausschließlich als Angehöriger des deutschen Volkes als einer national geprägten Kulturgemeinschaft angesehen zu werden und sich dieser Gemeinschaft verbunden zu fühlen [...]. Eine deutschfreundliche Einstellung und Betätigung reicht für dieses Bekenntnis nicht aus [...]." Obwohl immer wieder behauptet wird, daß 'deutscher Volkszugehöriger' nur ein rechtlicher, nicht aber ein ethnologischer Terminus sei (Makarov/von Mangoldt, ebd., Abschnitt 2, Paragraph 34; siehe auch Richtlinien zur Anwendung des § 6 BVFG, Mustererlaß des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.2.1980, Mbl. NRW 1980, 1782), und daß der eher technische Begriff der Staatsangehörigkeit auf der einen Seite und Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Nation auf der anderen Seite von einander unabhängig seien (vgl. von Mangoldt, FN 60, 971), läßt sich die Idee eines multinationalen oder gar multikulturellen Gemeinwesens sicherlich dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht ganz offenkundig nicht entnehmen. Für neuere Implikationen des Begriffs 'Volkszugehöriger' (insbesondere im Zusammenhang mit dem dramatischen Zustrom Deutschstämmiger; über 1 Million Menschen zwischen 1988 und 1991) siehe Brubaker, Rogers, Citizenship and Nationhood in France and Germany, FN 54, S. 68 ff.

[63] vgl. Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 19, S. 706: "Das Volk, auf dem die Demokratie als Staats- und Regierungsform aufbaut, wird gefaßt durch das Staatsangehörigkeitsrechts. Volk in diesem rechtlichen Sinne ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen."; S. 707: "Die rechtliche Verfaßtheit des Volkes liegt im Staatsangehörigkeitsrecht."

[64] In diesem Sinne Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 19, S. 706: "Die Staatsangehörigkeit muß an Vorgaben realer Homogenität und politischen Einheitswillens anknüpfen, die das Recht als solches nicht schaffen und nicht herbeizwingen [...] kann."

[65] So - theoretisch zumindest - entwirft es die U.S.-amerikanische Verfassung. Einbürgerung wird vor allem in staatsbürgerlichen Kategorien gedacht und viele stolzen amerikanischen Staatsangehörigen sind ebenso stolz auf ihre verschiedenen ethno-nationalen Identitäten - African Americans, Italo Americans, Jewish Americans, etc. In der Praxis herrscht leider kein Mangel an Beispielen für Fehlentwicklungen, wie etwa die beschämende Internierung von Amerikanern japanischer Herkunft (Japanese Americans) während des Zweiten Weltkriegs, nicht zu reden vom noch immer gegenwärtigen Gespenst des Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft.

[66] Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Israel. Israel ist konzipiert als Staat der Juden im Sinne eines Volkes. Die israelische Staatsangehörigkeit ergibt sich jedoch nicht ausschließlich aus dem Begriff des Volkes. Jude zu sein ist sicherlich nicht die Bedingung für die Staatsangehörigkeit - es gibt eine beachtliche arabische Minderheit mit voller Zugehörigkeit und Staatsangehörigkeit. Auch hier gibt es keinen Mangel an Fehlentwicklungen bei der Verwirklichung dessen, was im wesentlichen ein Staat mit mindestens zwei nationalen Gruppen und nur einer Staatsangehörigkeit ist.

[67] Ich beanspruche keine Urheberschaft für die Idee der Trennung von Nationalität und Staatsangehörigkeit, ein Konzept, das bereits von anderen vorgeschlagen wurde (neuestens dazu: Bryde, FN 9), inbesondere in nicht-juristischen Schriften und nicht zuletzt in Deutschland selbst; siehe allgemein, Kristeva, Julia, Nations without Nationalism, New York 1993, und eine jüngere, brilliante Konstruktion: Von Bogdandy, Armin, L'Unione Sovranationale Come Forma di Potere politico, X Teoria Politica 133 (1994). In Deutschland siehe vor allem Habermas, FN 9, S. 633, 634, 637, 638, 643, und M. Rainer Lepsius, "Ethnos" oder "Demos" - Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die europäische Einigung, in: Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, FN 52, S. 247 (249 ff.), beide mit weiteren Hinweisen. Lepsius zeigt klar die Gefahren der Verschmelzung von Nationalität und Staatsangehörigkeit und verweist auf das Dritte Reich: "Jede Gleichsetzung des 'Demos'als des Trägers der politischen Souveränität mit einem spezifischen 'Ethnos' führt im Ergebnis zu einer Unterdrückung oder Zwangsassimilation von anderen ethnischen, kulturellen, religiösen oder sozi-ökonomischen Bevölkerungsteilen innerhalb eines politischen Verbandes. [...] [D]as Gleichheitsgebot zwischen den Staatsbürgern erfährt eine Brechung über zusätzliche Eigenschaften: die ethnische Gleichheit, die religiöse Gleichheit, die kulturelle Gleichheit oder die rassische Gleichheit. Das extremste Beispiel für die Brechung der staatsbürgerlichen Gleichheitsnormen durch die Einführung eines weiteren Kriteriums zur Gewährung der politischen Gleichheit stellt die nationalsozialistische Judengesetzgebung dar, durch die deutsche Staatsbürger jüdischer Herkunft ihrer Gleichheitsrechte beraubt wurden." (S. 249-250). Wären das Bundesverfassungsgericht und die Richter nur daran interessiert gewesen, die intellektuellen Konzepte existierten durchaus. Warum diese Gedanken im Kontext der deutschen juristischen Debatte über Europa übersehen wurden, liegt, wie ich glaube, an einem Mißverständnis der Natur der Gemeinschaft.

[68] Talmud Sanhedrin, S. 44:2

[69] Die 'Turm zu Babel' - Metapher wird ebenfalls benutzt und - in ihrem Doppelsinn - ausgeschöpft von Gauger, Hans-Martin, Kommunikation und Identität: Zum Problem der Sprache, in: Bremer, Bento (Hrsg.), Europe by Nature. Starting-Points for Sustainable Development, Assen/Maastricht 1992, S. 133, (138 f.).

[70] Cohen, Hermann, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919.

[71] Daher sind Versuche, Staatsangehörigkeit auf eine Art zu definieren, die alle Verbindungen zwischen Demos und nationaler Zugehörigkeit zerschneidet - wie z.B. bei Dellavalle, FN 52, 258 erwähnt -, nicht unbedingt notwendig und gehen wohl zu weit.

[72] Siehe allgemein in diesem Zusammenhang die aufschlußreiche Arbeit von Meehan, Elisabeth, Citizenship and the European Community, London 1993; siehe auch Lippolis, V., La Cittadinanza Europea, Bologna 1994; vgl. Koslowski, Ray, Intra-EU Migartion, Citizenship and Political Union, 32 Journal of Common Market Studies 369 (1994).

[73] In der englischsprachigen Fassung lautet der Text wie folgt:
Citizenship of the Union is hereby established. Every person holding the nationality of a Member State shall be a citizen of the Union.

[74] Weiler, J.H.H., Europe After Maastricht - Do the New Clothes Have an Emperor? IUSEF -- Oslo Senter for Europa-retts skriftserie nr 12, S. 113 (1994)

[75] Es ist bemerkenswert, daß es hierfür einen historschen Präzedenzfall im Deutschland des 19. Jahrhunderts gibt: 1867 und 1871 beruhte die deutsche Staatsangehörigkeit auf der Staatsangehörigkeit der Staaten, welche den Bund bildeten; es gab anfangs keine gewissermaßen unmittelbare und unvermittelte deutsche Staatsangehörigkeit; siehe Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5.Auflage, Tübingen 1911, Band 1, S. 134; Magiera, Siegfried, Die neuen Entwicklungen der Freizügigkeit für Personen: Auf dem Weg zu einem europäischen Bürgerstatut, Europarecht 1992, 434 (446); Hobe Stephan, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht. Auf dem Weg zum Europäisches Bundesstaat?, Der Staat 1993, 245 (252 f.).

[76] Die 'Gefahr' einer doppelten Loyalität stellte auch das zentrale Argument gegen ein kommunales Wahlrecht für Ausländer in Deutschland dar, siehe Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 19, S. 733 ("Der Ausländer bleibt dagegen seinerseits seinem Heimatstaat personenrechtlich verbunden und diesem nach Maßgabe seines Rechts zur Loyalität verpflichtet. Mit der Zuweisung des Wahlrechts im Aufenthaltsstaat ist der rechtliche wie der politische Loyalitätskonflikt programmiert.")

[77] Vgl. Isensee, Abschied der Demokratie vom Demos, FN 19, S. 709 ("Sie [=die Nation] schafft sich den Staat nach ihrem Bilde") verbunden mit einer etwas mystischen Konnotation des Volkes als 'Schicksalsgemeinschaft' - ebendort, S. 709 f.

 

 


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