Jean Monnet Center at NYU School of Law



Previous|Title

4. Einwände

Back to the beginning. Die Begründbarkeit transnationaler Herrschaftsbefugnise, die sich weder aus dem einzelstaatlichen Verfassungsrecht noch aus einer diesen Verfassungen überlegenen Ordnung herleiten, so wurde eingangs geltend gemacht, sei das Kern- und Dauerproblem des Europarechts. Die in der deutschen Tradition entwickelten Integrationskonzepte des Ordoliberalismus und des Funktionalismus, so lautete das zweite Argument, hätten diese Ausgangsproblematik richtig gesehen. Die Rationalitätskriterien, die sie auf der europäischen Ebene intitutionalsieren wollten, seien jedoch nicht (mehr) zureichend. Daher sei die Forderung des Weißbuchs, von einer juridischen und ökonomischen Rationalität zu einem europäischen Regieren voranzugehen, grundsätzlich berechtigt.

Aber wie steht es um die Legitimität des Regierens, das im Weißbuch skizziert wird. Die Vorschläge zur regulativen Politik, die hier allein behandelt wurden, insinuieren eine transnationale Polity, die es nicht gibt. Sie setzen voraus, daß sich Europa als ein hierarchisch geordnet sei, daß es über einen Gesamtsouverän verfüge, dessen Willen eine transnationale Administration umzusetzen befugt sei. Gewiß, in dieser Kennzeichnung ist nichts von dem enthalten, was im Weißbuch über Partizipation, Kommunikation, die Rolle der Zivilgesellschaft und die ,,Fünf Grundsätze guten Regierens“ gesagt wird.

Systematisch kommt diesen Gesichtspunkten eine tragende Rolle zu. Sie sollen jenes ,,regulative surplus“, mit dem der Ordoliberalismus und der Funktionslismus nicht zurechtkommen, domestizieren; sie sollen dies leisten, indem sie das zweifache “deemokratische Mandat“, auf das sich das europäische Regieren jetzt schon stütze, durch ein drittes ergänzen. Aber wie ist es um dieses dritte Mandat bestellt? Stellt man in Rechnung, welche Fragen die europäische Gesetzgebung dem Implementationsprozeß schon überläßt, und daß das Weißbuch für eine weitere Verschlankung legislativer Vorgaben plädiert (S. 24 ff), so wird zunächst einmal deutlich, daß es sich um praktisch höchst bedeutsame und politisch vielfach sensible Themen handeln wird. Was berechtigt die im Weißbuch bezeichneten zivilgesellschaftlichen Akteure und expert communities zur Wahrnehmung eines derart weitreichenden politischen Mandats? Mechanismen einer Repräsentation von Interessen werden nicht genannt. Die Akteure ernennen sich selbst? Die Kommission überwacht diese Ernennung? Eine Delegation rechtssetzender Befugnisse ist in allen Verfassungsstaaten unabdingbar. Sie ist es auch und gerade angesichts der Komplexität des regulären legislativen Prozesses für die EU. In den Verfassungen der Mitgliedstaaten gibt nun allerdings korrigierende Regulative:48 Artikel 80 GG ist eine Vorschrift, die der Ermächtigung der Exekutive Schranken setzen will, und das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gebot Ernst genommen.49 Das Gemeinschaftsrecht kann diesen Ausweg nicht einfach übernehmen, muß aber nach funktionalen Äquivalenten suchen.

Dies alles nötigt dazu, das vom Weißbuch verschmähte Ausschußwesen in Erinnerung bringen. Die Komitologie hat gegenüber Agenturen nach amerikanischem Muster und gegenüber den Exekutivagenturen, die das Weißbuch befürwortet, den enormen Vorzug, daß sie die regulative Politik auch in ihrer ,,Durchführungsphase“ pluralistisch auch im Sinne einer Sensibiltät für gesellschaftliche Differenzen im ,,Binnenmarkt“ strukturiert, daß nationale Bürokratien sich mit den Positionen ihrer Nachbarstaaten auseinandersetzen müssen, daß Interessen und Besorgnisse in den Mitgliedstaaten nicht weggefiltert werden können. Sie grenzt die Entscheidungsspielräume ein, die das Weißbuch der Kommission zuweisen möchte. Dabei hat das Ausschußwesen rebus sic stantibus Schwächen, die denen der Programmatik des Weißbuchs spiegelbildlich zu entsprechen scheinen: Während das Weißbuch alle Welt zur Partizipation einlädt, aber nicht zu erkennen gibt, wer dann auch wirklich Zutritt erhalten wird, erscheinen die Zugänge zu den Netzwerken des Auschußwesens von vornherein viel zu eng. Es ist aber immerhin vorstellbar, daß in den dezentralen Kommunikationszusammenhängen, denen die Akteure des Ausschußwesens verpflichtet sind, die immer noch primär national organisierten und redenden Öffentlichkeiten ihre Interessen, Besorgnisse und Argumente einbringen, daß diese Öffentlichkeiten sich zur Kenntnis nehmen und das Ausschußwesen zu ihrer Vernetzung beiträgt. Und statt diese Pluralität zu beklagen, sollte man fragen, welche Chancen für eine in dem Aufeinandertreffen pluraler Öffentlichkeiten stecken - und wie diese Chancen institutionell stabilisiert werden können.50

Als ,,deliberativen Suprantionalimus“ - nicht als ,,deliberative Demokratie“ - haben Jürgen Neyer und ich in einer Analyse des Ausschußwesens im Lebensmittelsektor51 einen doppelten Prozeß bezeichnet: Zum einen die Einwirkung auf die ,,internen“ Entscheidungsprozesse in Verfassungsstaaten, die sich aus der Garantie Europäischer Rechte, aus Verpflichtungen zur Rücksichtnahme auf ,,fremde“ Belange, aus der Bindung der Nationalstaaten an transnationale Prinzipien und Rechtfertigungszwänge ergibt - ,,deliberativ“ ist ein solcher Supranationalismus, weil er sich nicht einfach aus einer Hierarchie von Rechtsquellen, sondern aus konstitutionellen Bindungen der Politik herleitet. Die zweite Dimension dieses deliberativen Supranationalismus ist eine unvermeidbare Konsequenz der Interdependenz, die aus den eben benannten Einwirkungen entstehen. In einer Union, die mit begrenzten Kompetenzen ausgestattet ist, deren Mitgliedstaaten durchaus noch aktiv sind, in der es viele Öffentlichkeiten gibt, wird beides auf der Tagesordnung bleiben: die Europäisierung der Nationalstaaten und Entscheidungsberfugnisse jener Polities, die sich im Gefolge des Integrationsprozesses etablieren, die kein dem der Verfassungstaaten entsprechendes demokratisches Mandat in Anspruch nehmen können, sondern nur durch die Qualität ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung verweisen können und unauflösbare Differenzen als solche respektieren müssen. In diesem Kontext und in diesem Sinne habe auch ich mehrfach von ,,good governance“ gesprochen,52 vor allem, weil sich im Terminus ,,Verwaltung“ jenes intergouvernmental-gubernative Element nicht findet, daß für das Management des Binnenmarktes unverzichtbar ist, weil in der Formel vom ,,guten“ Regieren immerhin ein normativer Anspruch zum Ausdruck kommt, der das Regieren im Binnenmarktes von einem strategischen Verhandeln abheben soll - freilich ohne die Metapher vom guten Regieren und Ambrogio Lorenzettis Bild dechiffrieren zu wollen.

Ein geradezuzu düsteres Schlußwort? Jene preußischen Reformer, die mit Hilfe einer Verwaltungsreform den Forderungen nach einer wirklichen Verfassung entgegenkommen und/oder sie als überflüssig erweisen wollten, haben ihre Zeitgenossen nicht beruhigen können und stattdessen den Weg zur Revolution von 1848 geebnet. Das hatten Preußens Reformer nicht im Schilde geführt, aber es war für Deutschland gut, wie wir heute wissen.


48 Vgl. Die Beiträge von G. Haibach, E. Picard, A. Tomkins, A. Türk in M. Andenas/A. Türk. Delegated Legislation and the Role of Committees in the EU , Den Haag-London-Boston 2000, 53-181.

49 Für eine historisch und rechtlich inforemative Analyse vgl. Ch. Möllers, Das parlamentarische Gesetz als demokratische Entscheidungsform - Ein Beitrag zur Institutionenwahrnehmung in der Weimarer Republik, in Ch. Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000.

50 Und man muß hierbei nicht nur defensiv argumentieren. Der rechtliche Rahmen der Komitologie ist besser als sein Ruf - und entwicklungsfähig; vgl Ch. Joerges, `Transnationale “deliberative Demokratie“ oder “deliberativer Suprantionalismus“? Anmerkungen zur Konzeptualisierung legitimen Regierens jenseits des Nationalstaats bei Rainer Schmalz-Bruns', Zeitschrift für Internationale Beziehungen 7 (2000), 145 ; ders., Law, Science and the Management of Risks to Health at the National. European and International Level - Stories on Baby Dummies, Mad Cows and Hormones in Beef', Columbia Journal of European Law 8 (2001), 1, 16-17]. Zu verweisen ist aber auch auf soziologische Studien zur Öffentlichkeitsproblematik, vor allem die von K. Eder, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa. Von der Sprachgemeinschaft zur issuespezifischen Kommunikationsgemeinschaft`, Berliner Journal (2000), 167; K. Eder/Kantner, `Transnationale Resonanzstrukturen in Europa. Eine Kritk der Rede vom Öffentlichkeitsdefizit', in: M. Bach (ed.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 40/2000), 306.

51 Vgl. Ch. Joerges/J. Neyer, Von internationalem Bargaining zur deliberativen Politik: Gründe und Chancen für eine Konstitutionalisierung der europäischen Komitologie, in B. Kohler-Koch (Hg.), Regieren in entgrenzten Räumen (PVS Sonderheft 28), 1998, 207.

52 Nachw. in Fn. 45.

Top|Previous|Title

 

 


This site is part of the Academy of European Law online, a joint partnership of the Jean Monnet Center at NYU School of Law, the Academy of European Law and the Robert Schuman Centre for Advanced Studies at the European University Institute.
Questions or comments about this site?
Email Enfellows@exchange.law.nyu.edu