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1. Einführung

Das Projekt eines Weißbuchs, das die Kommission in Angriff nahm, um Perspektiven für ein demokratisch reformiertes “europäisches Regieren” zu erarbeiten, hat Hoffnungen genährt und ist Vorbehalten begegnet. Die Skeptiker stellten den praktischen Nutzen des ganzen Unternehmens in Frage. Sie sahen sich bestätigt, als der Vertrag von Nizza am 26. Februar 2001 so ausgefallen war, daß eine Folgekonferenz nicht bloß unausweichlich, sondern höchst dringlich erschien. In der Tat: hätte der Ratifikationsprozeß seinen erwarteten Verlauf genommen, so hätte der sogleich so genannte “Post-Nizza-Prozess” die europapolitische Tagesordnung besetzt und für das Weißbuch kaum Raum gelassen. Nun, da das irische Referendum Bestürzung und Verwirrung ausgelöst hat, darf das Weißbuch wieder mit größerer Aufmerksamkeit rechnen. So sehen es offenbar auch seine Autoren: Das irische Nein zum Nizza-Vertrag sei ein Ausdruck für die Unzufriedenheit mit der Politik und den Institutionen Europas (S. 9) - als ,,Politikverdrossenheit“ hat man derartiges früher verbucht; das Phänomen betrifft nicht nur Europa.1

Das irische Mißgeschick des Vertrages von Nizza kann man aber auch umgekehrt als eine Bestätigung für die das Projekt des Weißbuchs interpretieren. Belegen nicht die Abstinenz und die Ablehnung der Iren einmal mehr die These, daß die europäische Politik dem intergouvernmentalistischen Modus der Regierungskonferenzen entglitten ist, daß sie nach neuen Mustern und Ausdrucksformen zu suchen habe. Ist es da nicht die Aufgabe der Kommission neue Initiativen zur Überwindung der Stagnation und der sich aus ihr ergebenden Gefährdungen des Integrationsprojektes zu ergreifen. War also Romani Prodi genau richtig beraten, als er einer programmatischen Erneuerung der Praktiken des europäischen Regierens eine so hohe Priorität einräumte?2 Ist es gar angebracht, historische Bezüge herzustellen und an die Lage Preußens im frühen 19. Jahrhunderts zu erinnern, in der kluge und energische Reformer durch eine “Regierungsverfassung” den Weg zur allgemeinen Verfassung ebnen wollten?3

Der endgültige Text des Weißbuchs nimmt sich, gemessen an solchen historischen Beispielen, eher unscheinbar aus. Die schon angesprochene Einstiegssentenz des Weißbuchs, liest sich zuweilen wie ein - in der Übersetzung freilich ziemlich holprigen geratenes - Stück Öffentlichkeitsarbeit. Und wenn viele Europäer, wie es wenig später heißt, ,,sich dem Wirken der Union entfremdet” (S. 9) fühlen, so mag dies besorgniserregend, ist aber doch kein analytisch hinlänglich präziser Ansatzpunkt institutioneller oder programmatischer Reformen.

All dies scheint den Skeptikern recht zu geben. Und dennoch bleibt richtig, daß vielleicht nicht so sehr das allzu wohlgefällig klingende Weißbuch selbst, aber doch jedenfalls die Vor- und Begleitarbeiten der europäischen Politik ungemein interessante Fragen gründlich erörtern, daß mit dem Governance-Projekt jedenfalls aus rechtswissenschaftlicher Sicht das Kern- und Dauerproblem des Integrationsprojekts schlechthin aufgreift und seine den Zugang zu ihm aktualisiert: Das Stich- und Modewort ,,Governance” - mit ,,Regieren” so gut wie eben möglich übersetzt - reagiert auf die Entstehung und den Ausbau genuin transnationaler Herrschaftsstrukturen (,,governance structures”),4 die enstanden sind, als die Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft übereinkamen, mehr als nur intergouvernementale Beziehungen zu einander zu unterhalten und mehr als eine internationale Organisation zu errichten - die entstehen müssen, wenn autonome Akteure zu einer Kooperationsform finden wollen, mit der dauerhaft gemeinsame Problemlösungen erreicht werden sollen. Gewiß hat Europa sich spätestens seit dem Jahre 1963 mit der richterlichen Einsicht vertraut gemacht, daß seine Verträge nicht als zwischenstaatliche Vereinbarungen zu begreifen und die europäischen Befugnisse in bloß völkerrechtlichen Begriffen nicht zu legitimieren seien.5 Aber spätesten seit der Einheitlichen Europäischen Akte des Jahres 1987 ist der Europäische Verbund auch über jene Gemeinschaft hinausgewachsen, die dem EuGH i.J. 1963 vor Augen stand, als er fand, daß die Mitgliedstaaten, ,,wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt“ hätten und so eine neue Rechtsordnung entstanden sei, ,,deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“. ,,Governance“, der Leitbegriff des Weißbuchs, ist immerhin eine positive Bezeichnung dieses sonst immer bloß negativ umkreisten aliud, und die Metapher vom ,,guten Regierens“ stellt sich - in dem Verständnis der Kommission nicht bloß metaphorisch - dem eigentümlichen Schwebezustand, in den die Union geraten ist, seit die Auffassung vordringt, daß die ,,constitutional charter", über die sie verfügt, nicht zureichend sei, ohne daß klar wäre, welche Art von Verfassung jene Charta ablösen solle.

Diese Aussagen soll der folgende Abschnitt (2.) in einem rekonstruktiven Verfahren präzisieren, das an rechtswissenschaftliche Begründungen legitimen transnationalen Regierens aus der formativen Phase der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erinnern wird und bei deren Rekonstruktion bis in die Zeiten der Weimarer Republik zurückgreifen. Der Rückgriff auf deutsche Traditionsbestände nimmt sich einseitig aus. Anders als ,,einseitig“ ist indessen eine historisch angelegte Rekonstruktion nicht denkbar. Die Problematik ist aus dem IPR geläufig; sie hat bei Bartin und Kahn ihre klassische Fassung und bei Rabel ihre transnationale Lösung gefunden: Die nationalstaatlich organisierten Rechtssysteme definieren die Voraussetzungen einer international funktionierende Kooperation zunächst für sich selbst. Dabei entdecken sie dann, ob und inwieweit sie zu einem transantionalen Problemverständnis übergehen müssen. Europarechtlich gefaßt: Welcher Art gemeinschaftlicher Herrschaft sollen und dürfen Staaten anstreben, die selbst demokratisch verfasst sind und diese Regierungsform sogar, wie Art. 79 Abs. 3 GG dies tut, für grundsätzlich unantastbar erklären?

Es kommt nicht von ungefähr, daß gerade das Grundgesetz diese Bestimmung getroffen hat - und sich gleichzeitig, in Art. 24, zu einer ,,offenen Staatlichkeit" bekannte.6 Und es kommt ebensowenig von ungefähr, daß gerade in Deutschland Traditionsbestände verfügbar waren, die sich erneuern ließen, an die angeknüpft werden konnte, als es darauf ankam, das Demokratiegebot des Grundgesetzes mit seiner Integrationsoffenheit zu versöhnen - und dabei zwischen unbeschädigten und diskriminierten Beständen der Tradition zu unterscheiden.

All das spricht sehr nachdrücklich dafür, in der Rekonstruktion rechtswissenschaftlicher Begründungen der Legitimität transnational-europäischen Regierens ,,einseitig“ vorzugehen - was gerade nicht heißt, daß es anderswo keine funktionalen äquivalenten Konzepte oder diese weniger bedeutsam gewesen seien. Im Gegenteil: Gerade in der Rekonstruktion der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Mitgliedstaaten des Integrationsprojektes erschließen sich dessen Errungenschaften - zu denen die schrittweise Entfaltung transnationaler governance structures gehört. Die Programmatik des Weißbuchs möchte diesen Prozeß bewußt machen, ihn weitertreiben und gleichzeitig demokratievertäglich gestalten. Wer sich die Mühsal dieses Prozesses und die konzeptionellen Probleme, mit denen er zu tun hat, vergegenwärtigt, wird mit dem mit dem Stil, in dem das Weißbuch sie abhandelt, seine Schwierigkeiten haben, auch Einwände formulieren wollen (unten 4.) - ohne mit fertigen Rezepten aufwarten zu können.


1 Wer diesen Begriff in die Suchmaschnie Google.com eintippt, bekommt in 17 Sekunden 5.690 einschlägige Nachweise.

2 Vgl. das Weißbuch zur ,,Governance“ für die Europäische Union. ,,Die Demokratie in der Europäischen Union vertiefen“. Arbeitsprogramm, SEK(2000) 1547/7 endg. v. 11. 10. 2000 und die Dokumente auf der einschhlägigen Website der Kommission: http://europa.eu.int/comm/governance/index_en.htm.

3 Genaueres bei R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung, Stuttgart 1975, 163ff.; G.-Ch. von Unruh, Die Veränderungen der Preußischen Staatsverfassung durch Sozial- und Verwalrungsreformen, in: K.G.A. Jeserich/H.Pohl/ G.-Ch. von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltuzngsgeschichte, Band II (Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösungdes Deutschen Bundes), Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1983, 399-470.

4 Zum deutschen Begriff vgl. M. R. Lepsius, Die Europäische Union als Herrschaftsverband eigener Prägung, in: Ch. Joerges/Y. Mény/J.H.H. Weiler (Hg.) What Kind of Constitution for What Kind of Polity? Responses to Joschka Fischer, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz/Harvard Law School, 2000, 203 ff. (http://www.iue.it/RSC/symposium/).

5 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 23f. - Van Gend en Loos.

6 Vgl. AK-GG-M. Zuleeg, Art. 24 Abs. 1, Rz. 3 ff.

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