,,Weißbücher enthalten Vorschläge für ein Tätigwerden der Gemeinschaft in einem bestimmten Bereich."1 Diese harmlose Definition auf der Homepage der Kommission läßt wenig von dem erahnen, was sich an universellem Anspruch im Weißbuch zur Governance2 findet. Bedeutende Weißbücher wie dasjenige zur Vollendung des Binnenmarktes3 enthielten stets ein deutliches Element an programmatischer Kommissions-Rhetorik. Doch bezog diese Rhetorik ihren Charme aus dem Pathos der Sachlichkeit, aus der Fachkompetenz der Kommission und aus dem Glauben an das Bestehen einer richtigen Lösung für ein definiertes, also abgrenzbares Problem - eben ,,in einem bestimmten Bereich". Die Kommission wollte politisch gestalten, aber zugleich sachgerecht arbeiten. In einer ins Deutsche nicht zu übersetzenden Unterscheidung war das Ziel der Kommission policy, nicht politics.
Der Ansatz des vorliegenden Weißbuchs löst sich von einzelnen Sachproblemen. Dies ergibt sich bereits aus dem noch näher zu untersuchenden Begriff der Governance, der augenscheinlich eine andere politische Rhetorik verlangt. In der Tat erinnert schon der Untertitel ,,Die Demokratie in der Europäischen Union vertiefen"4 an parteipolitische Programmatik: ,,Mehr Demokratie wagen" (Willy Brandt). Ein solcher Sprachgebrauch durchzieht das gesamte Weißbuch: ,,Die Bürger einbeziehen" (16), ,,Eine bessere Politik, bessere Regeln und bessere Ergebnisse" (24), ,,Bessere Anwendung in den Mitgliedstaaten" (32). Diese anspruchsvolle Programmatik steht in einem seltsamen Kontrast zur farblosen verwaltungswissenschaftlichen Sprache, derer sich das Weißbuch bedient: ,,Die Stärkung des Verwaltungsapparats der Beitrittsländer ist bereits ein Schlüsselthema der Heranführungsstrategie und wird nach dem Beitritt fortgeführt werden müssen." (32).
Verlangt der ganzheitliche Anspruch der Governance-Thematik eine bestimmte Form politischer Publizistik, so bleibt das Weißbuch hinter solchen Erwartungen nicht nur in seiner Ausdrucksweise zurück. Die Präsentation im Internet erweist sich als technokratische Baustelle: In bemerkenswerter Parallele zu den Europäischen Verträgen mit ihrem komplizierten Apparat aus verschiedenen Anhängen vermittelt das Weißbuch den Eindruck der Vorläufigkeit: Die von der Kommission an vielen Stellen ausdrücklich in Anspruch genommenen Vorzüge der Online-Kommunikation führen hier zu einer potentiell unbegrenzten Verweisstruktur, in der sich an den eigentlichen Text weitere Subtexte und Diskussionen anschließen, die den Entwurf in eigenen und fremden Stellungnahmen auflösen5 - eine vielleicht unfreiwillige performative Metapher für die im Weißbuch suggerierte Auflösung gemeinschaftlicher Herrschaftsausübung in einem zivilgesellschaftlichen Diskurs.
Enthält das Weißbuch einerseits fast keine Bezüge zu den Politiken der Gemeinschaft, so beschränkt es sich andererseits auch nicht auf verwaltungstechnische Probleme wie die durch die Kommission bereits umfänglich abgearbeitete6 Reform ihrer Binnenstruktur. Es soll augenscheinlich ums Ganze gehen, wie immer man dieses bestimmen kann. Damit begibt sich der Text in einen Bereich jenseits konkreter Sachpolitik (policy), ohne eine wirkliche politische Auseinandersetzung (politics) beginnen zu wollen oder zu können. Was bleibt, ist ein Text, der sich im Niemandsland zwischen politischer Theorie und politischem Programm befindet.
Hätte die Kommission nicht auch ein theoretisch informiertes Pamphlet à la ,,Was ist der Dritte Stand" zum Fortgang der Integration schreiben können - vielleicht in Form eines Heftes, das man in Schulen und Universitäten verteilt? Sie hätte damit ein Genre gewählt, das dem sehr ernst zu nehmenden Bedarf nach einem politischen Katechismus der Europäischen Integration gerade im Moment der Euro-Einführung entgegengekommen wäre. Das Weißbuch wäre die Gelegenheit gewesen, eine politische Rhetorik der Integration zu erfinden und ihr zu allgemeinem Interesse zu verhelfen. Diese Gelegenheit wurde nicht genutzt.
Es ist die Vermutung der folgenden Überlegungen, daß die Kommission die ihr im Governance-Weißbuch selbst gestellte Aufgabe nicht lösen konnte, ohne ihr eigenes funktionales Selbstverständnis in Frage zu stellen. Dies hat sie nicht getan. Im Ergebnis läßt sich das Weißbuch daher unter verschiedenen Gesichtspunkten als ein selbstwidersprüchliches Dokument verstehen, das von der Vorstellung durchzogen ist, die Besinnung auf vergangene Leistungen der Kommission sei geeignet, ihr bei der Lösung zukünftiger Aufgaben zu helfen.
1 http://europa.eu.int/comm/off/white/index_de.htm, Hervorhebung hier.
2 KOM(2001) 428 endg. Zahlen in Klammern im Haupttext verweisen auf dieses Dokument.
3 KOM(85) 310 endg.
4 Arbeitsprogramm zum Weißbuch SEK(2000) 1547/7 endg.
5 http://www.europa.eu.int./comm/governance/areas/index_en.htm
6 Die Reform der Kommission - Ein Weißbuch, KOM(2000) 200 endg.